Zum Stand der Dinge:
Universal Pictures hat den spanischsprachigen Film 2006 auf DVD in England mit englischen Untertiteln und exklusiv in der Schweiz mit deutschen und französischen Untertiteln veröffentlicht. Die schweizer Fassung war vor geraumer Zeit wieder vom Markt genommen worden. Das schweizer Label Ascot Elite hat den Film im April 2009 auf DVD neu aufgelegt - Cover, Screenmenu und Untertitel sind in deutsch und französisch vorhanden. Diese DVD wird nun erstmals über den deutschen Ableger von Ascot Elite auch an den Handel in Deutschland angeboten. Eine deutsche Synchro gibt es offensichtlich nicht, weil sich das allein für die kleine Schweiz wohl nicht rentiert. Wer wie ich den Bürgerkrieg in El Salvador damals von Westdeutschland aus als Sympathisant mit der Befreiungsbewegung verfolgt hat und miterlebt hat, wie die westdeutsche Regierung das mörderische Militärregime von Duarte hofiert und unterstützt hat, kann sich leicht einen Reim darauf machen, weshalb dieser Film der BRD-Bevölkerung nicht gezeigt wird. Statt eines Films mit unbequemer Wahrheit überflutet man hierzulande den Markt lieber mit Massen von hirnverblödenden Komödien.
"Voces Inocentes" ist in jeder Hinsicht für den anspruchsvollen (YS-)Filmfreund Pflichtprogramm und hat von mir die Höchstwertung.
Aus Anlaß der DVD Neuauflage:
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Review
Im mittelamerikanischen Land El Salvador bricht 1980 ein Bürgerkrieg aus. Mit militärischer Unterstützung und Waffenlieferungen durch den US-Geheimdienst durchkämmt die Armee des Regimes unter der Diktatur des durch einen Militärputsch kurz zuvor an die Macht gekommenen christlich-demokratischen Politikers José Napoleón Duarte plündernd und mordend die Dörfer. Die Truppen machen Jagd auf Guerillakämpfer der linksgerichteten Befreiungsbewegung FMLN, einem breiten Bündnis von Bauern und Arbeitern, welches sich aus kommunistischen, gewerkschaftlichen und christlichen Gruppierungen zusammensetzt. Dabei zwangsrekrutieren sie zur eigenen Verstärkung junge Männer und sogar Kinder! Jeder, der die Uniform der Regierungsarmee trägt, ist einer weniger für die Guerilleros, so die Überlegung der Junta.
Seit sein Vater abgehauen ist und die Familie sitzengelassen hat, ist der älteste Sohn Chava, gerade 11 Jahre alt, der Mann im Haus. Er muß sich um die kleinen Geschwister kümmern, und neben der Schule arbeitet er noch, um die Mutter finanziell zu unterstützen.
Chava fürchtet sich vor seinem nächsten Geburtstag. Die Regierungsarmee zieht Jungen ab 12 Jahren als Soldaten für den Krieg gegen die Guerilla der FMLN ein. Chavas Tage glücklicher Kindheit sind gezählt. Der Krieg rückt näher. Nächtliche Feuergefechte in den Straßen der Stadt Cuscatazingo zerreißen die Ruhe. Maschinengewehre rattern, Kugeln schlagen durch die Wände der armseligen Hütten aus Holzdielen und Blechen. Ein Nachbarsmädchen wird tödlich getroffen. Das gewaltsame Sterben nimmt vor den Augen der Kinder Gestalt an.
US-amerikanische Militärs tauchen in der Stadt auf. Diese Militärberater bilden die Soldaten der salvadorianischen Regierungsarmee darin aus, wie sie die eigene Bevölkerung am effektivsten massakrieren. An die neugierigen Kinder in den Straßen verteilen die Gringos freundlich Kaugummis.
Die Schule von Cuscatazingo wird von der Armee gestürmt. Alle Jungen über 12 Jahren werden abgeführt und für den Bürgerkrieg eingezogen. Wer nicht gehorcht, wird erschossen. Chava muß ohnmächtig zusehen, wie seine Schulkameraden unter Waffengewalt deportiert werden. Die Jungen müssen die Schuluniform gegen eine Soldatenuniform in Kindergröße wechseln. Die von der Washingtoner Reagan Administration zur Unterstützung der Diktatur nach El Salvador entsandten US-Militärs, die Gringos, werden die Kinder, denen sie eben noch Süßigkeiten zugesteckt hatten, jetzt im Umgang mit dem Schießgewehr unterrichten und ihnen das gezielte Töten von Menschen beibringen.
Chavas Onkel Beto ist Mitglied bei der Guerilla. Er will den Jungen in die befreite Zone mitnehmen, damit er vor dem Zugriff der Regierungsarmee sicher ist. Aber die Mutter ist damit nicht einverstanden. Sie verläßt mit den Kindern den umkämpften Stadtbezirk und zieht auf die andere Seite des Flusses. Ein letztes Mal kann Chava mit seinen Freunden ausgelassen spielen - und die erste Liebe erleben. Christina Maria, das hübscheste Mädchen in der Klasse, erwidert sein charmantes Werben und wird Chavas Freundin.
Als erneut die Regierungsarmee anrückt, um die Knaben aus ihren Familien zu verschleppen und sie zu mordenden Soldaten zu machen, sind die Kinder der Viertels dank der Hilfe der Rebellen vorbereitet und verstecken sich. Doch etliche der Jungen sehen in der bedrängten Lage in der Stadt für sich keine Perspektive mehr. Zusammen mit Freunden schlägt sich Chava in den Dschungel, um sich wie sein Onkel den Guerillakämpfern anzuschließen. Aber auch im Lager der Guerillas gibt es vor der brutalen Offensive der Regierungsarmee keinen Schutz. Chava und die anderen Jungen stecken plötzlich mitten in einem Inferno...
Kinder sind die grausamsten Opfer, die ein Krieg fordert. Im mörderischen Kampf der Erwachsenen werden die Jüngsten, die keine Stimme haben, gnadenlos zermalmt. Wenn alle Regeln der Menschlichkeit außer Kraft gesetzt sind, schrecken die zu Bestien gewordenen Soldaten nicht davor zurück, auch Kinder unter Waffen zu stellen, sie zum Töten abzurichten und sie ihrerseits wie Ungeziefer zu töten, wenn sie ihnen als Zugehörige des Feindes begegnen.
Der mexikanische Regisseur Luis Mandoki schuf mit "Voces Inocentes" ein sprachlos machendes Mahnmal für die vom Krieg geschundenen Kinderseelen. Im Verlauf des Films stehen sich als harter Kontrast immer wieder Szenen des Schreckens mit Momenten kindlicher Unbekümmertheit gegenüber. Chava nutzt jede Gelegenheit, jede Ruhepause, um ein normales Leben eines Elfjährigen zu führen. Er ist fröhlich, verspielt, verträumt, hat Pläne für seine Zukunft. All das läßt er sich nicht nehmen, nur weil um ihn herum geschossen wird. Dennoch muß er sich täglich mit der Wirklichkeit des Kriegsgeschehens auseinandersetzen.
Der katholische Priester des Orts solidarisiert sich, wie viele volksnahe Geistliche in diesem Konflikt, mit der leidenden Bevölkerung. Seine ungehorsame Haltung gegenüber der Armee des christlich-demokratischen Diktators Napoleón Duarte, die die Stadt regelrecht besetzt hat, muß der Priester bitter bezahlen.
Für Chava ist Onkel Beto das große Vorbild und die große Hoffnung. Als Chava inmitten eines Feuergefechts verzweifelt nach seiner Freundin Christina Maria sucht und nur durch das couragierte Eingreifen eines befreundeten Bürgers der Festnahme durch Regierungssoldaten entkommt, reift in dem Jungen die Erkenntnis, daß er sich diesem Krieg nicht länger entziehen kann. Wenn er schon ein Gewehr in die Hand nehmen und schießen muß, so will er es wenigstens auf der richtigen Seite tun: an der Seite seines Onkels in der Befreiungsbewegung!
Luis Mandoki animierte in dieser professionellen Kinoproduktion den kleinen Hauptdarsteller Carlos Padilla zu atemberaubenden Schauspielleistungen. Carlos geht für die Kamera durch die Hölle.
Nachdem der Zuschauer Chavas erschütternde Geschichte mit all der Tapferkeit und all der Angst, die der Junge in sich trägt, gesehen hat, bleibt ihm auch nicht der Anblick erspart, wie am Ende die Regierungssoldaten eine Reihe von kleinen Jungen, die sie bei den Guerilleros aufgegriffen haben, kurzerhand an Ort und Stelle hinrichten - sie aus nächster Nähe abknallen wie tollwütige Hunde!
Die von den USA angefeuerten Bürgerkriege in Nicaragua und El Salvador lösten Anfang der 1980er Jahre weltweite Empörung und eine Welle der Solidarität mit der unterdrückten Bevölkerung und den Freiheitskämpfern aus. Radio Venceremos, der verbotene Sender des Widerstands, wurde von Freien Radios aus Westeuropa unterstützt, die zum Teil ihrerseits damals von den Behörden in ihren Ländern ebenfalls als illegale Piratensender verfolgt wurden. Über die internationalen Netzwerke der Freien Radios konnte Radio Venceremos Beiträge und Nachrichten über die Kriegsereignisse in El Salvador in die Welt schicken, welche von den staatstreuen Medien der westlichen Länder verschwiegen wurden.
Es wundert kaum, daß der Film "Voces Inocentes" in der USA-hörigen BRD nicht für das Publikum veröffentlicht wurde und demzufolge keine deutsche Synchronisation erhielt; war doch die westdeutsche Regierung dem salvadorianischen Junta-Chef Duarte äußerst freundschaftlich verbunden und hofierte ihn auch nach seiner siegreichen Niederschlagung der Befreiungsbewegung in dem Bürgerkrieg, während dessen Verlauf 75.000 Salvadorianer starben und fast eine Million Einwohner aus dem Land flüchteten, als Präsidenten. Das Schicksal des kleinen Chava erzählt eine andere Geschichte von diesem Bürgerkrieg, eine wahre Geschichte.
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