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Freitag, 31. Dezember 2004, 00:09

Lemony Snicket - Eine Reihe bedrohlicher Ereignisse

Nachdem nun von Lemony Snicket das Buch "A Series of Unfortunate Events" verfilmt worden ist,
ist es denke ich auch an der Zeit es auch hier in der Bücherecke vorzustellen.

Von den inzwischen 11 Büchern der Serie "Eine Reihe bedrohlicher Ereignisse" über die
Geschwister Violet, Klaus und Sunny Baudelaire sind hierzulande drei in deutscher Sprache
erschienen.

Allem Anschein ein ähnlicher Erfolg wie bei Joanne K. Rowling in den USA.


Das erste Buch der Serie

Der schreckliche Anfang

ist bei Amazon.de für 13,00 €
erhältlich.

Hauptfiguren sind die Geschwister Violet, Klaus und Sunny Baudelaire. Sie sind, wie Lemony Snicket uns versichert, “klug, charmant und einfallsreich, sie sehen reizend aus, aber sie hatten äußerst wenig Glück.” Und das ist noch ausgesprochen zurückhaltend formuliert. Das Leben der drei Kinder ist das Musterbeispiel für eine Pechsträhne. Nach dem grausamen Tod ihrer Eltern sind sie völlig auf sich allein gestellt. Ihr Vormund, der vertrottelte Banker Mr. Poe, gibt sie bei ihrem vorgeblichen Verwandten Graf Olaf in Pflege. Der hat es jedoch nur auf das nicht unerhebliche Erbe der Baudelaires abgesehen und macht ihnen das Leben zur Hölle. Dagegen kann auch die nette Nachbarin, die belesene Richterin Stauss, nur wenig ausrichten ...

Der schreckliche Anfang ist genau das, was der Titel verspricht: ein fürchterlicher Auftakt! Fürchterlich spannend, fürchterlich komisch und auf eine Art und Weise charmant und liebenswert wie kaum ein anderes Jugendbuch. Die Baudelaire-Kinder wachsen dem Leser innerhalb weniger Seiten ans Herz, und ihr Schicksal ist so lustig wie unglaublich. Kein Wunder, dass es Lemony Snicket im englischsprachigen Raum zum Kultstatus gebracht hat, der sich mit seiner Unauthorized Biography [0060007192] in ein äußerst geheimnisvolles Licht rückt. Kinder jeden Alters werden an Der schreckliche Anfang ihre Freude haben -- und bald über kein anderes Thema mehr diskutieren wollen!






Hier noch eine Leseprobe aus dem Buch:

Wenn du gern Geschichten mit einem Happy End liest, solltest du lieber zu einem anderen Buch greifen. In diesem gibt es kein Happy End, auch keinen glücklichen Anfang und nur wenig Erfreuliches mittendrin. Das liegt einfach daran, dass sich im Leben der drei Baudelaire-Kinder wenig Erfreuliches zugetragen hat. Violet, Klaus und Sunny waren klug, charmant und einfallsreich, sie sahen reizend aus, aber sie hatten äußerst wenig Glück. Im Gegenteil: Fast alles, was ihnen zustieß, strotzte nur so vor Unheil, Elend und Verzweiflung. Es tut mir Leid, das sagen zu müssen, aber so war es nun einmal.

Ihr Unglück begann eines Tages an der Kahlen Küste. Die drei Baudelaire-Kinder lebten mit ihren Eltern in einer riesigen Villa mitten in einer dreckigen und geschäftigen Stadt, und gelegentlich erlaubten ihnen die Eltern, ganz allein mit einer rachitischen Straßenbahn – das Wort »rachitisch« bedeutet hier, wie du wahrscheinlich weißt, »wackelig« oder »kurz davor zusammenzubrechen« – ans Meer zu fahren, wo sie eine Art Ferientag verbringen durften, wenn sie nur rechtzeitig zum Abendessen nach Hause kämen. Der Vormittag, von dem hier die Rede sein soll, war grau und wolkenverhangen, was die Baudelaire-Kinder aber kein bisschen störte. An heißen und sonnigen Tagen war die Kahle Küste von Touristen übervölkert, und es war unmöglich, einen guten Platz zu finden, wo man seine Decke ausbreiten konnte. An grauen und wolkenbedeckten Tagen hatten die Baudelaire-Kinder dagegen den Strand ganz für sich und konnten tun, was sie wollten.
Violet Baudelaire, die Älteste, ließ gern Steine übers Wasser hüpfen. Wie die meisten Vierzehnjährigen war sie Rechtshänderin. Daher hüpften die Steine viel weiter über das trübe Wasser, wenn Violet die rechte, als wenn sie die linke Hand nahm. Während sie Steine hüpfen ließ, blickte sie zum Horizont hinaus und dachte über eine Erfindung nach, die sie machen wollte. Jeder, der Violet gut kannte, konnte sehen, dass sie angestrengt nachdachte, denn sie hatte ihr langes Haar mit einem Band zusammengebunden, um es aus den Augen zu halten. Violet war genial darin, merkwürdige Geräte zu erfinden und zu bauen. Darum gingen ihr häufig Bilder von Flaschenzügen, Hebeln und Zahnrädern durch den Kopf, und sie wollte davon nicht durch so etwas Nebensächliches wie ihre Haare abgelenkt werden. An diesem Vormittag grübelte sie darüber nach, wie sie eine Maschine konstruieren könnte, die einen Stein wieder zurückholte, den man ins Meer hatte hüpfen lassen.
Klaus Baudelaire, das mittlere der Kinder und der einzige Junge, hatte Spaß daran, Tiere in den Wassertümpeln zu untersuchen, die bei Ebbe zurückgeblieben waren. Er war etwas über zwölf Jahre alt und trug eine Brille, was ihn intelligent aussehen ließ. Er war aber auch intelligent. Die Baudelaire-Eltern hatten eine eindrucksvolle Bibliothek in ihrer Villa, einen Raum, angefüllt mit Tausenden von Büchern zu fast jedem Thema. Da Klaus erst zwölf war, hatte er natürlich noch nicht alle Bücher in dieser Bibliothek gelesen, aber doch eine ganze Reihe, und er hatte aus seiner Lektüre eine Fülle von Informationen behalten. Er wusste, wie man einen Alligator von einem Krokodil unterscheidet. Er wusste, wer Julius Caesar umgebracht hat. Und er wusste eine Menge über die winzigen, schleimigen Tiere, die an der Kahlen Küste zu finden waren und die er jetzt gerade beobachtete.
Sunny Baudelaire, die Jüngste, hatte die Angewohnheit, in Sachen zu beißen. Sie war noch ein Kleinkind und winzig für ihr Alter, kaum größer als ein Stiefel. Was ihr an Körpergröße fehlte, machte sie jedoch wett durch die Größe und Schärfe ihrer vier Zähne. Sunny war in dem Alter, in dem man überwiegend in einer Folge unverständlicher Kreischlaute spricht. Wenn sie nicht gerade die wenigen richtigen Wörter in ihrem Wortschatz wie »Flasche«, »Mami« und »beißen« benutzte, hatten die meisten Menschen Schwierigkeiten zu verstehen, was sie sagen wollte. An diesem Vormittag wiederholte sie zum Beispiel immer wieder »Gack«, was vermutlich bedeutete:
»Seht nur, die geheimnisvolle Gestalt, die aus dem Nebel auftaucht!«
Ganz richtig, in der Ferne konnte man auf dem dunstigen Strand der Kahlen Küste eine große Gestalt ausmachen, die auf die Baudelaire-Kinder zustrebte. Sunny hatte sie schon eine Zeit lang kreischend angestarrt, als Klaus von der stachligen Krabbe, die er beobachtete, aufblickte und sie ebenfalls sah. Er langte zu Violet hinüber, berührte sie am Arm und riss sie aus ihren Erfinderüberlegungen heraus.
»Schau dir das an«, sagte Klaus und zeigte auf die Gestalt. Sie kam näher, und die Kinder konnten schon ein paar Einzelheiten erkennen. Sie hatte in etwa die Größe eines Erwachsenen, nur der Kopf war unförmig und ziemlich eckig.
»Wofür hältst du das?«, fragte Violet.
»Ich weiß nicht«, sagte Klaus und kniff die Augen zusammen, »aber es scheint sich geradewegs auf uns zuzubewegen.«
»Wir sind allein am Strand«, sagte Violet ein wenig ängstlich. »Es gibt sonst niemanden, auf den es sich zubewegen könnte.« Sie fühlte den flachen, glatten Stein in der linken Hand, den sie gerade so weit wie möglich hüpfen lassen wollte. Sie hatte den plötzlichen Einfall, ihn auf die Gestalt zu werfen, weil sie so Furcht erregend wirkte.
»Sie scheint nur so schrecklich«, sagte Klaus, als könnte er die Gedanken seiner Schwester lesen, »weil es so neblig ist.«
So war es. Als die Gestalt bei ihnen war, stellten sie zu ihrer Erleichterung fest, dass es ganz und gar nichts Fürchterliches war, sondern jemand, den sie kannten: Mr. Poe. Er war ein Freund von Mr. und Mrs. Baudelaire, den die Kinder häufig bei Einladungen zum Abendessen getroffen hatten. Was die Kinder an ihren Eltern wirklich schätzten, war, dass sie ihre Kinder nicht wegschickten, wenn sie Besuch hatten, sondern ihnen gestatteten, bei den Erwachsenen am Tisch zu bleiben und sich an den Gesprächen zu beteiligen, solange sie nur beim Abräumen halfen. Die Kinder erinnerten sich an Mr. Poe, weil er immer erkältet war und sich bei Tisch ständig entschuldigte, um ins Nebenzimmer zu gehen und sich auszuhusten.
Mr. Poe nahm seinen Zylinder ab, der im Nebel seinen Kopf groß und eckig hatte erscheinen lassen, stand eine Weile da und hustete in ein weißes Taschentuch. Violet und Klaus traten vor, um ihm die Hand zu schütteln und guten Tag zu sagen.
»Guten Tag, wie geht es Ihnen?«, sagte Violet.
»Guten Tag, wie geht es Ihnen?«, sagte Klaus.
»Guda ge?«, sagte Sunny.
»Guten Tag, danke gut«, sagte Mr. Poe, sah dabei aber sehr traurig aus. Ein paar Sekunden lang sprach niemand, und die Kinder fragten sich, was Mr. Poe wohl an der Kahlen Küste zu suchen hatte. Eigentlich hätte er in der Stadt in der Bank sein sollen, wo er arbeitete. Er war auch nicht für den Strand gekleidet.
»Es ist ein schöner Tag«, sagte Violet schließlich, nur um Konversation zu machen. Sunny gab ein Geräusch wie ein ärgerlicher Vogel von sich, und Klaus hob sie hoch und hielt sie auf dem Arm.
»Ja, es ist ein schöner Tag«, sagte Mr. Poe geistesabwesend und starrte über den einsamen Strand. »Ich fürchte, ich habe eine sehr schlechte Nachricht für euch, Kinder.
Die drei Geschwister Baudelaire schauten ihn an. Violet spürte mit einem Gefühl der Verlegenheit den Stein in ihrer linken Hand und war froh, dass sie ihn nicht auf Mr. Poe geworfen hatte.
»Eure Eltern«, sagte Mr. Poe, »sind in einem schrecklichen Feuer verschieden.«
Die Kinder sagten nichts.
»Sie sind verschieden«, sagte Mr. Poe, »in einem Feuer, das das ganze Haus zerstört hat. Es tut mir furchtbar Leid, meine Lieben, dass ich euch das mitteilen muss.«
Violet wandte die Augen von Mr. Poe ab und starrte auf das Meer hinaus. Mr. Poe hatte die Baudelaire-Kinder nie vorher »meine Lieben« genannt. Sie verstand zwar seine Worte, glaubte aber, dass er scherzte, dass er sie und ihre Geschwister auf fürchterliche Weise zum Narren hielt.
»›Verschieden‹«, sagte Mr. Poe, »bedeutet ›umgekommen‹.«
»Wir wissen, was das Wort ›verschieden‹ bedeutet«, sagte Klaus ärgerlich. Das wusste er tatsächlich, er hatte allerdings noch Probleme damit, genau zu verstehen, was Mr. Poe gesagt hatte. Er hatte den Eindruck, dass sich Mr. Poe irgendwie versprochen haben müsste.
»Natürlich ist die Feuerwehr angerückt«, sagte Mr. Poe, »aber sie kam zu spät. Das ganze Haus brannte lichterloh. Es ist bis auf die Grundmauern abgebrannt.
Klaus stellte sich vor, wie all die Bücher in der Bibliothek in Flammen aufgingen. Nun würde er nie alle lesen können.
Mr. Poe hustete mehrmals in sein Taschentuch, bevor er fortfuhr: »Man hat mich hergeschickt, um euch von hier zurückzuholen und in meine Wohnung zu bringen. Dort werdet ihr eine Weile bleiben, bis wir uns eine Lösung überlegt haben. Ich bin der Testamentsvollstrecker eurer Eltern. Das heißt, ich werde ihr gewaltiges Vermögen verwalten und entscheiden, wohin ihr Kinder kommt. Wenn Violet volljährig ist, gehört das Vermögen euch, aber bis ihr alt genug seid, wird die Bank sich darum kümmern.«
Obwohl er gesagt hatte, dass er der Vollstrecker des Testaments sei, hatte Violet ein Gefühl, als ob Mr. Poe der Vollstrecker eines Urteils wäre. Er war einfach den Strand entlang zu ihnen gekommen und hatte ihr Leben für immer verändert.
»Kommt mit«, sagte Mr. Poe und reichte ihnen die Hand. Um sie ergreifen zu können, musste Violet den Stein fallen lassen, den sie darin hielt. Klaus nahm ihre andere Hand, und Sunny nahm Klaus’ andere; so wurden die Baudelaire-Kinder – nun die Baudelaire-Waisenkinder – vom Strand und aus ihrem bisherigen Leben weggeführt.

Zwei

Es hat keinen Sinn, dir zu schildern, wie furchtbar sich Violet, Klaus und sogar Sunny in der folgenden Zeit fühlten. Wenn du jemals einen Menschen verloren hast, der dir sehr wichtig war, dann weißt du, wie sich das anfühlte, und wenn nicht, dann kannst du es dir auch nicht vorstellen. Für die Baudelaire-Kinder war es natürlich besonders furchtbar, weil sie zur selben Zeit beide Eltern verloren hatten, und ein paar Tage lang fühlten sie sich so elend, dass sie kaum
das Bett verlassen konnten. Klaus stellte fest, dass er sich nur noch wenig für Bücher interessierte. Die Zahnräder in Violets erfindungsreichem Gehirn schienen stillzustehen. Und sogar Sunny, die natürlich zu klein war, um ganz zu verstehen, was vor sich ging, war mit weniger Begeisterung dabei, Sachen zu zerbeißen.
Selbstverständlich wurde alles auch dadurch nicht leichter, dass sie mit ihren Eltern zugleich ihr Heim und ihre ganze Habe verloren hatten. Wie du sicherlich weißt, kann eine traurige Lage oft dadurch ein wenig besser werden, dass man sich im eigenen Zimmer befindet, im eigenen Bett. Aber die Betten der Baudelaire-Waisenkinder waren nur noch ein Haufen verkohlter Asche. Mr. Poe hatte die Kinder zu den Überresten der Baudelaire-Villa mitgenommen, um nachzuschauen, ob irgendetwas verschont geblieben war, und es war einfach fürchterlich: Violets Mikroskop war in der Hitze des Feuers zusammengeschmolzen, Klaus’ Lieblingsfüller war zu Asche geworden, und Sunnys Beißringe waren ein einziger hässlicher Klumpen. Hier und dort konnten die Kinder noch Spuren der riesigen Wohnung erkennen, die sie so geliebt hatten: Bruchstücke ihres Flügels, eine formschöne Flasche, in der Mr. Baudelaire seinen Kognak aufbewahrt hatte, das versengte Kissen von der Bank am Fenster, auf der ihre Mutter so gerne gesessen und gelesen hatte.
Nachdem ihr Heim also zerstört war, sollten sich die Baudelaire-Kinder von ihrem furchtbaren Verlust bei den Poes erholen, dort aber konnte man sich überhaupt nicht wohl fühlen.
Mr. Poe war kaum zu Hause, denn er war sehr damit beschäftigt, sich um die Baudelaire-Angelegenheiten zu kümmern, und wenn er zu Hause war, hustete er oft so stark, dass man sich kaum mit ihm unterhalten konnte. Mrs. Poe kaufte für die Waisen groteske bunte Kleidungsstücke, die zudem kratzten. Und die zwei Poe-Kinder – Edgar und Albert – waren laute und abscheuliche Jungen, mit denen sich Violet, Klaus und Sunny ein winziges Zimmer teilen mussten, in dem es nach irgendeiner grässlichen Blume roch.
Dennoch hatten die Kinder gemischte Gefühle, als Mr. Poe bei einem langweiligen Essen mit gekochtem Hühnchen, gekochten Kartoffeln und blanchierten grünen Bohnen – das Wort »blanchiert« bedeutet hier ebenfalls »gekocht« – ankündigte, dass sie das Haus am nächsten Morgen verlassen sollten.
»Gut«, sagte Albert, dem ein Stück Kartoffel zwischen den Zähnen klebte. »Dann kriegen wir endlich unser Zimmer zurück. Ich hab die Nase voll davon, es teilen zu müssen. Violet und Klaus blasen die ganze Zeit nur Trübsal und sind überhaupt nicht lustig.«
»Und die Kleine beißt«, ergänzte Edgar und warf einen Hühnerknochen auf den Boden, als wäre er ein Tier im Zoo und nicht der Sohn eines angesehenen Mitglieds der Bankenwelt.
»Wohin kommen wir?«, fragte Violet ängstlich.
Mr. Poe machte den Mund auf, um etwas zu sagen, wurde aber erst einmal von einem kurzen Hustenanfall geschüttelt. »Ich habe alles in die Wege geleitet«, sagte er schließlich. »Ihr werdet von einem eurer entfernten Verwandten aufgezogen. Er lebt ganz am anderen Ende der Stadt und heißt Graf Olaf.«
Violet, Klaus und Sunny schauten sich an und waren nicht sicher, was sie davon halten sollten. Einerseits wollten sie nicht länger bei den Poes leben. Andererseits hatten sie noch nie von Graf Olaf gehört und konnten demnach auch nicht wissen, was für ein Mensch er war.
»Der letzte Wille eurer Eltern«, sagte Mr. Poe, »bestimmt, dass ihr auf eine möglichst angemessene Art und Weise aufgezogen werden sollt. Hier in der Stadt werdet ihr eine vertraute Umgebung haben, und dieser Graf Olaf ist der einzige Verwandte, der innerhalb der Stadtgrenzen lebt.«
Klaus überlegte, während er ein zähes Stück Bohne hinunterschluckte. »Aber unsere Eltern haben uns gegenüber nie einen Graf Olaf erwähnt. Wie ist er denn genau mit uns verwandt?«
Mr. Poe seufzte und blickte auf Sunny hinab, die auf einer Gabel herumbiss und aufmerksam zuhörte.
»Er ist entweder ein Cousin dritten Grades um vier Ecken herum oder ein Cousin vierten Grades um drei Ecken herum. Er ist nicht euer nächster Verwandter nach dem Stammbaum, aber der nächste geographisch gesehen. Deshalb …«
»Wenn er in der Stadt wohnt«, sagte Violet, »warum haben unsere Eltern ihn dann nie zu uns eingeladen?«
»Vielleicht, weil er sehr beschäftigt ist«, sagte Mr. Poe.
»Er ist Schauspieler von Beruf und reist oft mit Theatertruppen um die Welt.«
»Ich dachte, er ist ein Graf«, sagte Klaus.
»Er ist beides, ein Graf und ein Schauspieler«, sagte Mr. Poe. »Also, ich will unsere Mahlzeit nicht vorzeitig beenden, aber ihr Kinder müsst noch eure Sachen packen, und ich muss zurück in die Bank, um zu arbeiten. Wie euer neuer gesetzlicher Vormund bin auch ich sehr beschäftigt.«
Die drei Baudelaire-Kinder hatten noch viele Fragen an Mr. Poe, aber er war schon vom Tisch aufgestanden, winkte ihnen flüchtig zu und verließ den Raum. Sie hörten, wie er in sein Taschentuch hustete, dann fiel die Haustür hinter ihm knarrend ins Schloss.
»Also«, sagte Mrs. Poe, »ihr drei solltet besser mit dem Packen beginnen. Edgar, Albert, helft mir bitte, den Tisch abzuräumen.«
Die Baudelaire-Waisen gingen ins Kinderzimmer und packten verdrossen ihre wenigen Habseligkeiten zusammen. Klaus betrachtete angewidert jedes einzelne der hässlichen Hemden, die Mrs. Poe für ihn gekauft hatte, faltete sie zusammen und legte sie in einen kleinen Koffer. Violet blickte sich in dem beengten, muffigen Zimmer um. Und Sunny kroch über den Fußboden, biss feierlich in jeden von Edgars und Alberts Schuhen und hinterließ darin kleine Zahnspuren, damit man sie nicht vergessen würde. Von Zeit zu Zeit blickten sich die Baudelaire-Kinder an, aber da ihre Zukunft so sehr in Nebel gehüllt war, wussten sie nicht, was sie sagen sollten.
Die ganze Nacht warfen sie sich in den Betten hin und her und fanden kaum Schlaf zwischen dem lauten Schnarchen von Edgar und Albert und ihren eigenen sorgenvollen Gedanken. Schließlich klopfte Mr. Poe an die Tür und streckte den Kopf ins Zimmer.
»Aufstehen, die Sonne lacht, ihr Baudelaires«, rief er. »Es ist Zeit für euch, zu Graf Olaf zu gehen.«
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Freitag, 31. Dezember 2004, 00:23

Das Haus der Schlangen

bei amazon.de für ebenfalls 13,00 €
erhältlich.




Eine Leseprobe :

Eins

Die Straße, die aus der Stadt hinausführt, am Nebelhafen vorbei bis zu der Ortschaft Ödlang, ist womöglich eine der unerfreulichsten Strecken der Welt. Sie trägt den Namen Schaurige Chaussee. Die Schaurige Chaussee führt zwischen Feldern von kränklich grauer Farbe hindurch, auf denen eine Hand voll verkümmerter Apfelbäume steht, deren Früchte so sauer sind, dass dem Reisenden schon vom bloßen Anblick übel wird. Später überquert die Schaurige Chaussee den Fauligen Fluss, ein Gewässer, das zu neun Zehnteln aus Sumpf besteht und in dem eine ausgesprochen nervtötende Spezies der Gattung Fisch lebt. Zu allem Übel führt die Straße auch noch an einer Meerrettichfabrik vorbei, weshalb ein beißender, bitterer Geruch über der gesamten Gegend liegt.
Ich bedaure, dir mitteilen zu müssen, lieber Leser, dass gleich zu Beginn dieser Geschichte die Baudelaire-Waisen auf eben jener höchst unerfreulichen Chaussee unterwegs sind und dass von jetzt an alles immer nur noch schlimmer wird. Von allen Menschen auf dieser Welt, die ein elendes Leben führen – und davon gibt es, wie du sicherlich weißt, eine ganze Menge – schießen die jungen Baudelaires zweifellos den Vogel ab, ein Ausdruck, der hier so viel bedeuten soll wie, dass ihnen mehr schreckliche Dinge zugestoßen sind als vermutlich irgendwem sonst. Ihr Elend begann mit einem gewaltigen Feuer, das ihr Heim zerstörte und ihre liebevollen Eltern tötete. Das allein wäre schon traurig genug für ein ganzes Leben, aber im Falle der drei Geschwister sollte dies nur der schlimme Anfang sein. Nach dem Brand wurden die drei Kinder zu einem entfernten Verwandten geschickt, bei dem sie von da an leben sollten. Graf Olaf, so hieß er, war ein schrecklicher und geldgieriger Mensch. Die Eltern Baudelaire hatten ein riesiges Vermögen hinterlassen, das an die Kinder gehen sollte, sobald Violet volljährig wäre. Graf Olaf war so besessen von dem Gedanken, das Geld in seine schmierigen Hände zu bekommen, dass er einen Plan ausheckte, der so gemein war, dass er mir bis zum heutigen Tag Albträume bereitet. Zwar wurde Graf Olaf gerade noch rechtzeitig entlarvt, doch er entkam und schwor sich, das Baudelaire-Vermögen irgendwann in der Zukunft doch noch an sich zu reißen. Violet, Klaus und Sunny hatten noch immer schreckliche Träume, in denen Graf Olaf vorkam, seine teuflisch funkelnden Augen, seine eine zottige Augenbraue, vor allem aber das Auge, das er als Tätowierung an einem Knöchel trug. Es schien, als würde dieses Auge die Baudelaire-Waisen auf Schritt und Tritt beobachten. Solltest du dieses Buch also in der Hoffnung aufgeschlagen haben, dass die Kinder von nun an glücklich und in Freuden leben, so muss ich dir leider sagen, dass du es ebenso gut gleich wieder zuschlagen und etwas anderes lesen kannst. Violet, Klaus und Sunny, die dicht gedrängt auf dem Rücksitz eines Autos saßen und durch die Fenster auf die Schaurige Chaussee starrten, befanden sich auf dem Weg zu nur noch mehr Kummer und Elend. Der Faulige Fluss und die Meerrettichfabrik bildeten nur den Auftakt zu einer ganzen Reihe unerfreulicher Erlebnisse, an die ich nicht denken kann, ohne dass mein Gesicht sich schmerzhaft verzerrt und mir Tränen in die Augen treten.
Am Steuer des Autos saß Mr. Poe, ein Freund der Familie, der bei einer Bank arbeitete und ständig Husten hatte. Er war damit betraut, die Angelegenheiten der Waisen zu regeln, und also war er es auch, der entschieden hatte, die Kinder nach all den unerfreulichen Erlebnissen mit Graf Olaf in die Obhut eines entfernten Verwandten auf dem Lande zu geben.
»Tut mir Leid, dass ihr es nicht bequemer habt«, sagte Mr. Poe und hustete in ein weißes Taschentuch, »aber in mein neues Auto passen einfach nicht allzu viele Fahrgäste hinein. Nicht einmal einen einzigen von euren Koffern haben wir verstauen können. So etwa in einer Woche komme ich noch einmal und bringe sie euch.«
»Vielen Dank«, sagte Violet, die mit vierzehn das älteste der Baudelaire-Kinder war. Jeder, der Violet gut kannte, sah sofort, dass sie mit ihren Gedanken ganz woanders war. Sie hatte nämlich ihr langes Haar mit einem Band zusammengebunden, damit es ihr nicht ins Gesicht fiel. Violet war eine Erfinderin, und immer, wenn sie etwas erfand, band sie ihr Haar gern auf diese Weise zusammen. So konnte sie klarer über die verschiedenen Zahnräder, Drähte und Seile nachdenken, die zu den meisten ihrer Erfindungen gehörten.
»Nachdem ihr so lange in der Stadt gelebt habt«, fuhr Mr. Poe fort, »werdet ihr das Leben auf dem Land sicherlich als angenehme Abwechslung empfinden. Oh, hier ist ja schon die Abzweigung. Wir sind fast da.«
»Gut«, sagte Klaus leise. Ihm ging es wie vielen Menschen – er langweilte sich schrecklich auf Autofahrten, und es tat ihm Leid, dass er kein Buch mitgenommen hatte. Klaus las leidenschaftlich gern, und mit seinen knapp zwölf Jahren hatte er schon mehr Bücher gelesen als die meisten Menschen während ihres ganzen Lebens. Manchmal las er bis spät in die Nacht, und morgens fand man ihn dann tief schlafend, das Buch noch in der Hand und die Brille auf der Nase.
»Auch Dr. Montgomery wird euch bestimmt gefallen«, sagte Mr. Poe. »Er ist weit gereist und weiß daher viele Geschichten zu erzählen. Sein Haus soll voll gestopft sein mit Sachen, die er aus all den Ländern mitgebracht hat, in denen er gewesen ist.«
»Bax!«, quiekte Sunny. Die jüngste der Baudelaire-Waisen redete oft auf diese Art, wie Kleinkinder es eben tun. Wenn sie nicht gerade mit ihren vier äußerst scharfen Zähnen in irgendetwas hineinbiss, verbrachte sie den Großteil ihrer Zeit damit, solche Wortfetzen hervorzubringen. Es war oft schwer zu sagen, was sie eigentlich meinte. In diesem Moment wollte sie vermutlich so etwas Ähnliches sagen wie: »Ich bin ganz schön aufgeregt bei dem Gedanken, einen neuen Verwandten kennen zu lernen.« Das ging allen drei Geschwistern so.
»Wie ist Dr. Montgomery eigentlich genau mit uns verwandt?«, wollte Klaus wissen.
»Dr. Montgomery ist – lass mich nachdenken – der Bruder der Frau des Cousins deines verstorbenen Vaters. Ich glaube, so müsste es stimmen. Er ist irgendeine Art Wissenschaftler und bekommt einen Haufen Geld von der Regierung.« Als Bankier interessierte sich Mr. Poe immer sehr für alles, was mit Geld zusammenhing.
»Wie sollen wir ihn denn nennen?«, fragte Klaus.
»Ihr solltet ihn Dr. Montgomery nennen«, antwortete Mr. Poe, »es sei denn, er erlaubt euch, Montgomery zu ihm zu sagen. Sein Vorname ist auch Montgomery, wie sein Nachname, so dass es letztlich keinen großen Unterschied macht.«
»Er heißt also Montgomery Montgomery?«, fragte Klaus schmunzelnd.
»Ja, und ich würde euch raten, euch über diese Tatsache nicht zu mokieren, er ist in diesem Punkt bestimmt sehr empfindlich«, sagte Mr. Poe und hustete wieder in sein Taschentuch. »›Sich mokieren‹ bedeutet übrigens so viel wie ›sich lustig machen‹.«
Klaus seufzte. »Ich weiß, was ›sich mokieren‹ bedeutet«, sagte er. Was er nicht sagte, war, dass er selbstverständlich auch wusste, dass es sich nicht gehörte, sich über den Namen eines Menschen lustig zu machen. Manche Leute schienen zu glauben, dass die Waisen, nur weil ihnen so großes Unglück widerfahren war, geistig eher beschränkt sein müssten.
Auch Violet seufzte und nahm das Band aus ihrem Haar. Sie hatte versucht, etwas zu erfinden, das den Geruch von Meerrettich daran hinderte, bis zu den Nasen der Menschen zu gelangen, aber sie war zu aufgeregt bei dem Gedanken an die Begegnung mit Dr. Montgomery, um sich darauf konzentrieren zu können. »Wissen Sie, was für eine Art Wissenschaftler er ist?«, fragte sie. Vielleicht hatte Dr. Montgomery ja ein Laboratorium, das ihr nützlich sein könnte.
»Leider nicht«, musste Mr. Poe eingestehen. »Ich war vollauf damit beschäftigt, die Dinge für euch drei zu regeln, so dass mir zum Plaudern kaum Zeit blieb. Ah, hier ist die Auffahrt. Wir sind da.«
Mr. Poe lenkte seinen Wagen einen steilen Kiesweg hoch bis vor ein riesiges Steinhaus. Die rechteckige Eingangstür war aus dunklem Holz, und mehrere Säulen flankierten das Portal. Zu beiden Seiten des Eingangs waren Lampen in Gestalt von Fackeln angebracht, und trotz der Morgenstunde leuchteten sie hell. Oberhalb der Haustür gab es mehrere Reihen rechteckiger Fenster, von denen die meisten zum Lüften offen standen. Vor dem Haus aber gab es etwas zu sehen, das gelinde gesagt ungewöhnlich war: Am Rande des ausgedehnten, gepflegten Rasens wuchs eine Hecke aus zahlreichen hohen, schlanken Büschen in bemerkenswerten Formen. Als Mr. Poes Wagen anhielt, erkannten die Baudelaires, dass die Büsche so in Form geschnitten waren, dass sie wie Schlangen aussahen. Jeder Busch glich einer anderen Schlange – manche waren lang, andere kurz, manche züngelten, andere sperrten ihre Mäuler auf und zeigten grässliche grüne Giftzähne. Es sah ziemlich gruselig aus, und Violet, Klaus und Sunny zögerten etwas, bevor sie an ihnen vorbei auf das Haus zugingen.
Mr. Poe, der voranging, schien die Büsche gar nicht wahrzunehmen, vielleicht deswegen, weil er vollauf damit beschäftigt war, den Kindern einzubläuen, wie sie sich benehmen sollten: »Also du, Klaus, stellst bitte nicht wieder gleich zu Beginn so viele Fragen. Violet, wo hast du deine Haarschleife gelassen? Ich fand, du sahst sehr vornehm damit aus. Und einer von euch sollte darauf achten, dass Sunny Dr. Montgomery nicht beißt. Das würde bei der ersten Begegnung keinen guten Eindruck machen.«
Mr. Poe war bei der Tür angelangt und läutete. Es war die lauteste Türglocke, die die Kinder je gehört hatten. Einen Moment lang blieb es still, dann näherten sich Schritte. Violet, Klaus und Sunny sahen einander an. Sie konnten natürlich nicht wissen, dass schon sehr bald neues Elend auf sie zukommen sollte, aber trotzdem fühlten sie sich unbehaglich. Ob Dr. Montgomery wohl ein freundlicher Mensch war? Ob er wenigstens netter war als Graf Olaf? Oder sollte er womöglich noch schlimmer sein?
Langsam und knarrend ging die Tür auf, und die Baudelaire-Kinder hielten den Atem an, während sie in die dunkle Eingangshalle spähten. Sie sahen einen weinroten Teppich auf dem Boden liegen. Sie sahen eine bleiverglaste Lampe von der Decke baumeln. Sie sahen ein großes Ölgemälde von zwei ineinander verschlungenen Schlangen an der Wand hängen. Aber wo war Dr. Montgomery?
»Hallo?«, rief Mr. Poe. »Hallo?«
»Hallo, hallo, hallo!«, ertönte eine laute Stimme, und hinter der Tür trat ein kleiner, rundlicher Mann mit einem roten Gesicht hervor. »Ich bin euer Onkel Monty, und ihr kommt genau im richtigen Augenblick! Gerade eben ist meine Kokosnuss-Sahnetorte fertig geworden!«
Zwei

»Mag Sunny keinen Kokosnusskuchen?«, fragte Onkel Monty. Mr. Poe, die Baudelaire-Waisen und ihr Onkel saßen alle um einen grellgrünen Tisch herum. Jeder hatte ein Stück Kuchen vor sich. Sowohl die Küche als auch der Kuchen waren noch warm vom Backen. Die Torte war hervorragend, saftig und sahnig und mit genau der richtigen Menge Kokos obendrauf. Violet, Klaus und Onkel Monty hatten ihre Teller schon fast leer gegessen, doch Mr. Poe und Sunny hatten beide nur ein winziges Stückchen probiert.
»Ehrlich gesagt«, antwortete Violet, »mag Sunny überhaupt kein weiches Essen. Am liebsten mag sie ganz harte Sachen.«
»Sehr ungewöhnlich für ein Kleinkind«, meinte Onkel Monty. »Aber absolut nicht ungewöhnlich für viele Schlangen.Die Barbarische Kauschlange zum Beispiel muss ständig etwas im Maul haben, sonst beginnt sie, an ihrem eigenen Mund herumzukauen. Vielleicht hätte Sunny ja gern eine rohe Mohrrübe? Die ist nun wirklich hart.«
»Eine rohe Mohrrübe wäre genau das Richtige, Dr. Montgomery«, antwortete Klaus.
Der frisch gebackene gesetzliche Vormund der Kinder hatte sich erhoben, um zum Kühlschrank zu gehen, doch nun drehte er sich noch einmal um und wedelte mit dem Zeigefinger in Klaus’ Richtung. »Nennt mich bloß nicht Dr. Montgomery«, sagte er. »Das ist mir viel zu steif! Sagt einfach Onkel Monty zu mir. Nicht einmal meine Kollegen Herpetologen nennen mich Dr. Montgomery.«
»Was sind Herpetologen?«, fragte Violet.
»Wie nennen sie dich denn?«, fragte Klaus.
»Kinder, Kinder«, mahnte Mr. Poe streng. »Ihr solltet doch nicht so viel fragen!«
Onkel Monty lächelte die Waisen an. »Das ist schon in Ordnung«, sagte er. »Wer Fragen stellt, zeigt damit nur, dass er wissbegierig ist. Eure Fragen sind ja nicht indiskret. ›Indiskret‹ heißt –«
»Wir wissen, was es bedeutet«, sagte Klaus schnell.
»Es heißt so viel wie ›taktlos‹.«
»Nun, wenn du dieses Wort kennst«, sagte Onkel Monty und reichte Sunny eine große Mohrrübe, »dann solltest du auch wissen, was Herpetologie bedeutet.«
»Es ist die Wissenschaft von etwas«, antwortete Klaus.
»Immer, wenn ein Wort auf -ologie endet, ist es die Wissenschaft von etwas.«
»Schlangen!«, rief Onkel Monty begeistert. »Schlangen, Schlangen, Schlangen! Das ist meine Wissenschaft. Ich liebe Schlangen, alle Arten von Schlangen, und ich reise um den ganzen Globus herum auf der Suche nach unbekannten Spezies, die ich dann hier in meinem Laboratorium beobachte. Ist das nicht interessant?«
»Und ob«, sagte Violet, »hochinteressant – aber ist es nicht auch gefährlich?«
»Nicht, wenn man sich auskennt«, sagte Onkel Monty. »Mr. Poe, hätten Sie vielleicht auch gern eine rohe Möhre? Sie haben Ihren Kuchen kaum angerührt.«
Mr. Poe wurde rot und hustete erst einmal in sein Taschentuch, bevor er antwortete. »Nein, vielen Dank, Dr. Montgomery.«
Onkel Monty zwinkerte den Kindern zu. »Wenn Sie mögen, können Sie ruhig auch Onkel Monty zu mir sagen, Mr. Poe.«
»Danke, Onkel Monty«, sagte Mr. Poe steif. »Aber eine Frage hätte ich, wenn Sie nichts dagegen haben. Sie erwähnten, dass Sie um den ganzen Globus zu reisen pflegen. Gibt es denn jemanden, der herkommt und sich um die Kinder kümmert, wenn Sie unterwegs sind auf der Suche nach neuen Reptilien?«
»Wir sind alt genug, uns um uns selber zu kümmern«, beeilte sich Violet zu sagen, obwohl sie in ihrem Innersten nicht ganz so überzeugt war. Onkel Montys Arbeit klang ja sehr interessant, aber ob sie so gern ganz allein mit ihren Geschwistern in einem Haus voller Schlangen sein wollte, da war sie sich nicht sicher.
»Nichts da!«, sagte Onkel Monty. »Ihr drei kommt natürlich mit. In zehn Tagen brechen wir auf nach Peru, und ich will euch Kinder unbedingt im Dschungel bei mir haben.«
»Ist das wahr?«, fragte Klaus. Seine Augen hinter den Brillengläsern leuchteten vor Aufregung. »Du würdest uns wirklich mitnehmen nach Peru?«
»Ich werde sogar froh sein über eure Hilfe«, sagte Onkel Monty und griff nach Sunnys Kuchen, um ein Stück davon abzubeißen. »Gustav, mein wichtigster Assistent, hat mir gestern völlig unerwartet ein Kündigungsschreiben gesandt. Ich habe bereits jemanden engagiert, der seinen Platz einnehmen soll, aber dieser Mann – er heißt Stefano – kommt erst in einer Woche oder so, und das heißt, dass ich mit meinen Reisevorbereitungen weit hinterherhinke.
Wir verlangen, das Leben müsse einen Sinn haben,
aber es hat nur genau so viel Sinn wie wir ihm geben.
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Freitag, 31. Dezember 2004, 00:28

und als drittes Buch

Der Seufzersee

gibt es bei amazon.de für 13,00 €



Leseprobe

Eins

Wer die Baudelaire-Waisen nicht kennt, könnte, wenn er sie so am Damokleskai auf ihren Koffern sitzen sieht, annehmen, ihnen stünde ein aufregendes Abenteuer bevor. Schließlich waren die drei Kinder soeben aus der Freudlosen Fähre ausgestiegen, die sie über den Seufzersee gebracht hatte, um bei ihrer Tante Josephine zu leben. Und normalerweise wäre das der Anfang eines aufregenden und erfreulichen Lebens.
Aber natürlich wäre eine solche Annahme grundlegend falsch. Denn obwohl Violet, Klaus und Sunny Baudelaire aufregende und unvergessliche Erfahrungen bevorstanden, sollten sie doch nicht in der Art aufregend und unvergesslich sein, wie wenn einem die Zukunft vorausgesagt wird oder man einen Zirkus besucht. Ihre Abenteuer sollten vielmehr so aufregend und unvergesslich sein, als ob man um Mitternacht von einem Werwolf über ein Feld voller Dornengestrüpp gejagt wird und kein Mensch in der Nähe ist, der einem helfen kann. Wenn du eine aufregende, aber erfreuliche Geschichte lesen möchtest, dann muss ich dir leider sagen, dass du mit Sicherheit das falsche Buch in der Hand hast, denn die Baudelaires erleben im Verlauf ihres bedrückenden und jammervollen Lebens nur sehr wenig Erfreuliches. Ihr Unglück ist ganz entsetzlich, so entsetzlich, dass ich mich kaum dazu durchringen kann, darüber zu schreiben. Wenn du also lieber keine tragische und traurige Geschichte lesen möchtest, dann hast du hiermit eine allerletzte Möglichkeit, dieses Buch beiseite zu legen; das Elend der Baudelaire-Waisen beginnt nämlich bereits mit der nächsten Zeile.
»Schaut, was ich euch mitgebracht habe«, sagte Mr. Poe. Er grinste über beide Ohren und hielt ihnen eine kleine Papiertüte hin. »Pfefferminzbonbons!« Mr. Poe arbeitete bei einer Bank und musste sich nach dem Tode der Baudelaire-Eltern um die Angelegenheiten der Waisen kümmern. Mr. Poe war ein herzensguter Mann, aber es reicht in dieser Welt nicht aus, herzensgut zu sein, besonders dann nicht, wenn man Kinder vor Gefahren beschützen soll. Mr. Poe kannte die Kinder seit ihrer Geburt; trotzdem hatte er nicht daran gedacht, dass sie gegen Pfefferminzbonbons allergisch waren.
»Danke, Mr. Poe«, sagte Violet, nahm die Papiertüte und blickte hinein. Wie die meisten Vierzehnjährigen war Violet zu wohlerzogen, um zu erwähnen, dass sie nach dem Genuss eines Pfefferminzbonbons einen Nesselausschlag erleben würde, was »eine Pustelexplosion, die den Körper für ein paar Stunden mit roten juckenden Placken bedeckt,« bedeutet. Außerdem war sie gerade viel zu sehr mit erfinderischen Überlegungen beschäftigt, um groß auf Mr. Poe zu achten. Jeder, der Violet kannte, wusste, dass, wenn ihr Haar – wie gerade jetzt – mit einem Band zusammengehalten war, um es aus den Augen zu halten, ihr Kopf mit Hebeln, Scheiben, Zahnrädern und anderen Gegenständen angefüllt war, wie man sie für Erfindungen braucht. In diesem Augenblick dachte sie darüber nach, wie sie den Motor der Freudlosen Fähre so verbessern könnte, dass er keinen Rauch mehr in den grauen Himmel spuckte.
»Das ist sehr freundlich von Ihnen«, sagte Klaus, das mittlere der Baudelaire-Kinder, lächelnd zu Mr. Poe. Dabei dachte er daran, dass seine Zunge, wenn er nur kurz an einem Pfefferminz lutschte, sofort anschwellen würde und er kaum in der Lage wäre zu sprechen. Klaus nahm seine Brille ab und wünschte, Mr. Poe hätte ihm statt der Bonbons besser ein Buch oder eine Zeitung gekauft. Klaus war eine richtige Leseratte, und kaum hatte er im Alter von acht Jahren bei einer Geburtstagsfeier die erste Erfahrung mit seiner Allergie gemacht, da hatte er sofort alle Bücher seiner Eltern über Allergien gelesen. Noch vier Jahre danach konnte er die chemischen Formeln auswendig, die für das Anschwellen seiner Zunge verantwortlich waren.
»Toi!«, quiekte Sunny. Die Jüngste der Baudelaires war noch ein Kleinkind, und wie die meisten Kleinkinder sprach sie überwiegend in Worten, die schwer zu verstehen waren. Mit »Toi!« meinte sie wahrscheinlich: »Ich habe noch nie ein Pfefferminzbonbon gegessen, weil ich befürchte, dass ich wie meine Geschwister allergisch dagegen bin«, aber ganz sicher konnte man sich da nicht sein. Es wäre auch möglich, dass sie sagen wollte: »Ich wünschte, ich könnte in ein Pfefferminzbonbon beißen, denn ich liebe es, mit meinen vier scharfen Zähnen in Dinge zu beißen, aber ich möchte lieber keine allergische Reaktion riskieren.«
»Ihr könnt sie während der Taxifahrt zum Haus von Mrs. Anwhistle lutschen«, sagte Mr. Poe und hustete in sein weißes Taschentuch. Er war anscheinend immer erkältet, und die Baudelaire-Waisen waren schon daran gewöhnt, alle Mitteilungen von ihm zwischen Anfällen von trockenem Husten und Krächzen zu erhalten. »Sie lässt sich entschuldigen, dass sie euch nicht vom Kai abholt, aber sie hat Angst davor.«
»Warum sollte sie Angst vor einem Kai haben?«, fragte Klaus und blickte sich nach den hölzernen Landestegen und den Segelbooten um.
»Sie hat vor allem Angst, was mit dem Seufzersee zu tun hat«, sagte Mr. Poe, »aber sie hat nicht gesagt, warum. Vielleicht hat es mit dem Tod ihres Mannes zu tun. Eure Tante Josephine – in Wirklichkeit ist sie natürlich nicht eure Tante, sondern die Schwägerin eurer Kusine zweiten Grades, aber sie hat darum gebeten, dass ihr sie Tante Josephine nennt –, eure Tante Josephine hat kürzlich ihren Mann verloren, und es könnte sein, dass er ertrunken oder bei einem Bootsunglück umgekommen ist. Ich hielt es für unhöflich, nachzufragen, wie sie zur Witwe geworden ist. Nun, dann will ich euch mal in ein Taxi verfrachten.«
»Was bedeutet dieses Wort?«, fragte Violet.
Mr. Poe blickte Violet mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Ich bin erstaunt über dich, Violet«, sagte er. »Ein Mädchen in deinem Alter sollte eigentlich wissen, dass ein Taxi ein Auto ist, das dich gegen eine Gebühr irgendwohin bringt. Also lasst uns euer Gepäck zusammensuchen und an die Bordsteinkante treten.«
»Wittib«, flüsterte Klaus Violet zu, »ist ein hochgestochenes Wort für Witwe.«
»Danke«, flüsterte sie zurück und nahm ihren Koffer in die eine Hand und Sunny an die andere. Mr. Poe schwenkte sein Taschentuch in der Luft, um ein Taxi herbeizurufen; im Nu verstaute der Taxifahrer das ganze Gepäck der Baudelaires im Kofferraum, und Mr. Poe verstaute die Baudelaire-Kinder auf dem Rücksitz.
»Ich verabschiede mich hier von euch«, sagte Mr. Poe. »In der Bank wird schon gearbeitet, und ich bekomme nichts mehr geschafft, wenn ich euch begleite. Grüßt eure Tante bitte von mir, und richtet ihr aus, dass ich in Verbindung mit ihr bleiben werde.« Mr. Poe machte eine Pause und hustete in sein Taschentuch, bevor er fortfuhr: »Also, Josephine hat ein wenig Angst davor, drei Kinder in ihrem Haus zu haben, aber ich habe ihr versichert, dass ihr euch sehr gut zu benehmen wisst. Passt also auf und achtet auf eure Manieren. Wie immer könnt ihr mich in der Bank anrufen oder mir ein Fax schicken, wenn es irgendein Problem gibt. Obwohl ich mir nicht vorstellen kann, dass diesmal irgendetwas schief geht.«
Als Mr. Poe »diesmal« sagte, blickte er die Kinder bedeutungsvoll an, als ob es ihre Schuld wäre, dass Onkel Monty tot war. Die Baudelaires waren jedoch vor dem Treffen mit ihrem neuen Vormund zu nervös, um Mr. Poe mehr zu sagen als »bis dann«.
»Bis dann«, sagte Violet und steckte die Tüte mit den Pfefferminzbonbons in die Tasche.
»Bis dann«, sagte Klaus und warf einen letzten Blick auf den Damokleskai.
»Frul!«, kreischte Sunny und kaute auf dem Verschluss ihres Sicherheitsgurtes herum.
»Bis dann«, erwiderte Mr. Poe, »und viel Glück. Ich werde so oft wie möglich an euch denken.«
Mr. Poe gab dem Taxifahrer etwas Geld und winkte den drei Kindern zum Abschied nach, als das Auto vom Bordstein abfuhr und in eine graue Straße mit Kopfsteinpflaster einbog. Sie kamen an einem kleinen Lebensmittelgeschäft vorbei, vor dem Fässer mit Limetten und Rüben standen. Sie sahen ein Kleidergeschäft namens "Das könnte Ihnen so passen!", das offenbar gerade renoviert wurde. Und da war ein fürchterlich aussehendes Restaurant "Zum Bangen Clown" mit Neonleuchten und Luftballons im Fenster. Die meisten Läden und Geschäfte jedoch waren mit Brettern oder Metallgittern vor Fenstern und Türen verrammelt.
»Die Stadt scheint nicht gerade sehr bevölkert«, bemerkte Klaus. »Ich hatte gehofft, wir könnten hier ein paar neue Freunde finden.«
»Die Saison ist vorbei«, sagte der Taxifahrer, ein dürrer Mann, dem eine dünne Zigarette aus dem Mundwinkel hing, und während er mit den Kindern sprach, betrachtete er sie im Rückspiegel. »Die Stadt Seufzersee ist ein Kurort, und wenn schönes Wetter herrscht, ist sie gestopft voll. Aber um diese Zeit ist alles so tot wie die Katze, die ich heute Morgen überfahren habe. Um neue Freunde zu finden, müsst ihr warten, bis das Wetter etwas besser wird. Übrigens: Der Hurrikan Hermann wird in etwa einer Woche in der Stadt erwartet. Ihr solltet dafür sorgen, dass ihr genug Verpflegung da oben im Haus habt.«
»Ein Hurrikan auf einem See?«, fragte Klaus. »Ich dachte immer, Hurrikane kommen nur in der Nähe des Meeres vor.«
»Auf einem Gewässer so groß wie der Seufzersee«, sagte der Fahrer, »kann alles passieren. Ehrlich gesagt hätte ich etwas Angst, oben auf dieser Anhöhe zu wohnen. Wenn der Sturm erst einmal losbricht, wird es schwierig, den ganzen Weg hinab in die Stadt zu fahren.«
Violet, Klaus und Sunny sahen zum Fenster hinaus und verstanden, was der Fahrer mit »den ganzen Weg hinab« gemeint hatte. Das Taxi hatte eine letzte Kurve umrundet und war auf der zerklüfteten Kuppe eines ganz, ganz hohen Hügels angekommen. Ganz, ganz tief unten konnten die Kinder die Stadt sehen, die Straße mit dem Kopfsteinpflaster, die sich wie eine winzige graue Schlange um die kastenförmigen Gebäude wand, und das kleine Viereck des Damokleskais mit stecknadelkopfgroßen hin und her eilenden Menschen darauf. Und jenseits des Kais sah man wie einen Tintenklecks den Seufzersee, riesig und finster, als ob ein Ungeheuer über den drei Waisenkindern stünde und einen riesigen Schatten nach unten würfe. Für ein paar Augenblicke starrten die Kinder auf den See, wie hypnotisiert von diesem gigantischen Fleck auf der Landschaft.
»Der See ist wirklich gigantisch«, sagte Klaus, »und wie tief er aussieht. Ich kann fast verstehen, warum Tante Josephine sich vor ihm fürchtet.«
»Die Dame, die hier oben lebt«, fragte der Taxifahrer, »fürchtet sich vor dem See?«
»Das hat man uns gesagt«, antwortete Violet.
Der Fahrer schüttelte den Kopf und hielt an. »Ich kapier nicht, wie sie’s dann hier aushalten kann.«
»Wie meinen Sie das?«, fragte Violet.
»Wollt ihr sagen, ihr wart noch nie in diesem Haus?«, fragte er.
»Nein, niemals«, antwortete Klaus. »Wir kennen auch unsere Tante Josephine nicht.«
»Also, wenn eure Tante Josephine Angst vor dem Wasser hat«, sagte der Taxifahrer, »dann glaube ich nicht, dass sie in diesem Haus wohnt.«
»Wie meinen Sie das?«, fragte jetzt Klaus.
»Schaut euch doch mal um«, sagte der Fahrer und stieg aus.
Die Baudelaires schauten sich um. Zunächst sahen die drei Kinder nur einen kleinen viereckigen Kasten mit einer Tür, von der die weiße Farbe abblätterte, und es sah aus, als wäre das Haus kaum größer als das Taxi, das sie hierher gebracht hatte. Aber als sie aus dem Wagen kletterten und näher an das Haus herangingen, sahen sie, dass dieser kleine Kasten der einzige Teil des Hauses war, der sich auf der Kuppe des Hügels befand. Der Rest – eine ganze Reihe viereckiger Schachteln, die wie Eiswürfel zusammenklebten – hing über die Kante des Hügels und war nur mit langen Metallstelzen an ihm befestigt, die wie Spinnenbeine aussahen. Als die drei Waisenkinder auf ihr neues Zuhause herabblickten, hatten sie den Eindruck, dass das ganze Haus sich krampfhaft an den Hügel klammerte.
Der Taxifahrer holte ihr Gepäck aus dem Kofferraum, stellte es vor die Tür, von der die weiße Farbe abblätterte, verabschiedete sich mit einem Tuut seiner Hupe und fuhr den Hügel hinab. Mit einem leisen Quietschen öffnete sich die Haustür und dahinter erschien eine bleiche Frau. Ihr weißes Haar trug sie hoch oben auf dem Kopf zu einem Knoten gebunden.
»Hallo«, sagte sie mit einem dünnen Lächeln. »Ich bin eure Tante Josephine.«
»Hallo«, sagte Violet unsicher und trat vor, um ihren neuen Vormund zu begrüßen. Hinter ihr trat Klaus vor, und hinter ihm kroch Sunny. Alle drei Baudelaires bewegten sich ganz vorsichtig, als könnte ihr Gewicht das Haus aus seiner heiklen Lage kippen. Die Waisenkinder fragten sich, wie eine Frau, die solche Angst vor dem Seufzersee hatte, in einem Haus leben konnte, das jeden Augenblick in dessen Tiefen zu stürzen drohte.
Zwei

»Das ist die Heizung«, sagte Tante Josephine und deutete mit einem bleichen, mageren Finger auf einen Heizkörper. »Fasst sie bitte niemals an. Vielleicht findet ihr es hier bei mir etwas kühl. Aber ich stelle die Heizung nie an, weil ich Angst habe, sie könnte explodieren; daher wird es abends oft sehr kalt.«
Violet und Klaus blickten sich kurz an, und Sunny blickte beide an. Tante Josephine führte sie durch ihr neues Zuhause, und bislang schien sie vor allem Angst zu haben, vom Fußabtreter am Eingang, über den man, wie Tante Josephine erklärte, stolpern und sich das Genick brechen könnte, bis zum Sofa im Wohnzimmer, das, wie sie meinte, jederzeit umkippen und sie erschlagen könnte.
»Hier ist das Telefon«, sagte Tante Josephine und zeigte auf das Telefon. »Man sollte es nur im Notfall benutzen, denn es besteht die Gefahr, dass man sich einen tödlichen Stromschlag holt.«
»Ich habe«, sagte Klaus, »viel über Elektrizität gelesen.
Ich bin ziemlich sicher, dass das Telefon völlig ungefährlich ist.«
Tante Josephines Hände flatterten zu ihrem weißen Haar, als ob ihr etwas auf den Kopf gesprungen wäre. »Man darf nicht alles glauben, was man liest«, erklärte sie.
»Ich habe mal ein Telefon aus allen Einzelteilen zusammengebaut«, sagte Violet. »Wenn du magst, könnte ich das Telefon auseinander nehmen und dir zeigen, wie es funktioniert. Vielleicht fühlst du dich dann sicherer.«
»Das glaube ich nicht«, sagte Tante Josephine mit gerunzelter Stirn.
»Delmo!«, war Sunnys Beitrag, was vermutlich etwas bedeutete wie: »Wenn du willst, beiße ich in das Telefon, um dir zu zeigen, dass es ungefährlich ist.«
»Delmo?«, fragte Tante Josephine, während sie sich bückte und einen Fussel vom Teppich mit dem verblichenen Blumenmuster aufhob. »Was meinst du mit ›delmo‹? Ich betrachte mich als Sprachexpertin, aber ich habe keine Idee, was das Wort ›delmo‹ bedeutet. Welche Sprache spricht Sunny?«
»Sunny spricht noch nicht flüssig, fürchte ich«, sagte Klaus und hob seine kleine Schwester hoch. »Meistens nur Kleinkindergebrabbel.«
»Gran!«, kreischte Sunny, was in etwa bedeutete: »Ich protestiere dagegen, dass du das Kleinkindergebrabbel nennst!«
»Nun gut, dann muss ich ihr die richtige Sprache beibringen«, sagte Tante Josephine steif. »Ich bin sicher, ihr braucht eigentlich alle drei etwas Nachhilfe in Grammatik. Grammatik ist das größte Vergnügen im Leben, findet ihr nicht?«
Die drei Geschwister schauten sich an. Violet hätte wahrscheinlich eher gesagt, dass Erfindungen zu machen das größte Vergnügen im Leben sei, und Klaus dachte das vom Lesen, und für Sunny gab es natürlich kein größeres Vergnügen, als in Dinge zu beißen. Die Baudelaires dachten über Grammatik, all diese Regeln für das Schreiben und Sprechen einer Sprache, wie sie auch über Bananenkuchen dachten: ganz nett, aber nichts, worüber man sich groß aufregen sollte. Doch sicher wäre es unhöflich, Tante Josephine zu widersprechen.
»Ja«, sagte Violet schließlich. »Grammatik haben wir immer gemocht.«
Tante Josephine nickte und schenkte den Baudelaires ein flüchtiges Lächeln. »Ich bringe euch jetzt auf euer Zimmer, und den Rest der Besichtigung machen wir nach dem Abendessen. Wenn ihr diese Tür öffnet, drückt nur hier gegen das Holz. Benutzt niemals den gläsernen Türgriff. Ich habe immer Angst, dass er in tausend Stücke zerspringt und eins davon mir ins Auge fliegt.«
Die Baudelaires glaubten allmählich, dass sie keinen einzigen Gegenstand im ganzen Haus berühren durften, aber sie lächelten Tante Josephine zu, drückten gegen das Holz und öffneten so die Tür. Dahinter zeigte sich ein geräumiges, helles Zimmer mit kahlen weißen Wänden und einem schlichten blauen Teppich. Da standen zwei große Betten und ein großes Kinderbettchen, offenbar für Sunny. Alle drei waren mit einer schlichten blauen Tagesdecke bedeckt, und an jedem Fußende stand eine mächtige Truhe, in der man Sachen aufbewahren konnte. An einem Ende des Zimmers befand sich ein großer Kleiderschrank für sie gemeinsam, ein kleines Fenster zum Hinausschauen und ein mittelgroßer Haufen von Blechdosen zu keinem erkennbaren Zweck.
»Es tut mir Leid, dass ihr drei euch ein Zimmer teilen müsst«, sagte Tante Josephine, »aber dieses Haus ist nicht allzu groß. Ich habe mir Mühe gegeben, alles bereitzustellen, was ihr braucht, und ich hoffe, dass ihr es bequem habt.«
»Ganz bestimmt«, sagte Violet und trug ihren Koffer in das Zimmer. »Vielen Dank, Tante Josephine.«
Wir verlangen, das Leben müsse einen Sinn haben,
aber es hat nur genau so viel Sinn wie wir ihm geben.
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Myles

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4

Samstag, 19. Februar 2005, 19:38

Ich hab von meiner Oma das 1 und 2 Band bekommen leider in English nun sitze ich hier und übersetze zimmlich viel aber ich habe jetzt von 1 Teil die Hälfte durch und müss sagen COOL super Bücher :)
:tanz:
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Shizzle

Imperator

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Wohnort: D-Town

5

Sonntag, 16. Oktober 2005, 13:27

Ich hab das erste Buch vor etwa 2-3 Jahren in english gelesen und fand es damals schon super... ein tipp an alle: das Buch kommt hundert mal besser auf englisch rüber als auf deutsch.

Ich muss nur sagen dass die verfilung zwar an sich gut war, aber nicht des storyboard... viel zu viel geschehen in einem Film... man hätte ne Hammer Reihe draus machen können... naja
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