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Renko

König

Registrierungsdatum: 19. September 2003

Beiträge: 128 Aktivitäts Punkte: 755

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Freitag, 13. Februar 2004, 09:12

Charlie 13

Eine Buchvorstellung.
Paul Theroux: Moskito-Küste
Sonderausgabe vom claasen Verlag, 1987
ISBN 3-546-49090-8
448 Seiten

Zum Inhalt:
Charlie, der 13jährige Held des Romans, lebt mit seiner Familie in Massachusetts. Seine Familie, das sind sein Bruder Jerry (11 Jahre), die kleinen Zwillinge und natürlich seine Eltern: die ruhige, sanfte Mutter und der dominante, geniale Vater (Allie).
Der Vater ist ein Unikum, ein notorischer Erfinder. Er kritisiert auf sympathische Weise und mit aller Klarheit die Vereinigten Staaten, überhaupt das ganze System (siehe Leseprobe).
Es bleibt aber nicht bei seiner Kritik.

Mit Kind und Kegel wird er auswandern nach Mittelamerika, fern jeder Zivilisation. In den Dschungel von Honduras. Die Familie wird sich aus dem Nichts ein kleines Paradies erschaffen, mit Eismaschine, Warmwasserdusche, Schmiede, Gärten – kurz: die scheinbar perfekte Erfüllung des großen Traumes der Selbstbestimmung.

Aber es wird zum Alptraum.

Das Problem (für die Familie) wird nicht die Wildheit des Dschungels sondern die des Vaters. Mit zunehmender Seitenzahl kippt die Genialität des Familienoberhaupts in Wahnsinn.
Und Charlie ist mittendrin. Im tiefsten Dschungel, mit dem autoritären Vater und in der Verantwortung für seine jüngeren Geschwister. Sein kleiner Bruder Jerry wird am meisten leiden (siehe Leseprobe).

Paul Theroux (1941 in Massachusetts geboren) hat mit diesem Roman seiner Zeit einen Bestseller geliefert.
Das Buch passt sowohl in die Abenteuer- als auch in die Vater-Sohn-Schublade. Es ist anspruchsvoll und trotzdem lebendig geschrieben. Die Geschichte ist unheimlich spannend, obgleich einige Personen (z. B. die Mutter) – wie ich finde – zu einfach gestrickt sind. Das Buch macht nachdenklich, es provoziert und ist auf jeden Fall – um der Sache eine Ende zu setzen – sehr lesenswert. Nehmt euch ein wenig Zeit dafür.

Es folgen zwei Leseproben:

1. Der Vater beim Einkaufen

»Den Teil jetzt hasse ich«, sagte er (der Vater), als wir in Northampton ankamen. Er trug eine Baseballmütze; beim Fahren ragte sein Ellbogen aus dem Fenster. »Die Collegemädels sind‘s nicht, obwohl die schlimm genug sind. Schau dir Tugboat Annie dort drüben an, ihren Umfang. Sie ist so dick, elf von ihrer Sorte, und man könnte ein Dutzend draus machen. Aber das ist Fett – hat nichts mit Gesundheit zu tun. Das sind die Cheeseburgers.« Er schob seinen Kopf aus dem Fenster und brüllte: »Das sind diese Cheeseburgers!«
Die Main Street runter (»Alles Drogensüchtige«) fuhren wir an einer Getty-Tankstelle vorbei, und Vater jaulte bei dem Benzinpreis auf. ZWEI TOTE BEl SCHIESSEREI knallte uns von einem Zeitungsstand entgegen, und er sagte: »Scheißblatt.« Allein das Wort Sammlerstücke an einer Ladenfront irritierte ihn. Und in der Nähe der Eisenwarenhandlung gab es einen Automaten, der Eis im Beutel verkaufte.
»Sie verkaufen Eis – zehn Pfund für einen Quarter. Aber Wasser gibt‘s genauso umsonst wie die Luft. Diese Geldgeier verkaufen Wasser! Wasser ist die neue Wachstumsindustrie. Mineralwasser, Quellwasser, Wasser mit Kohlensäure. Die größte Neuigkeit – Wasser ist gut für Sie! Bier mit wenig Kalorien – weißt du, was drin ist? Warum es einen schlank hält? Weißt du, warum es mehr als das normale Bier kostet? Wasser!«
Vater sagte Wassa, nach Art der Yankees.
Immer mürrischer werdend, kurvte er herum, bis er eine noch nicht abgelaufene Parkuhr fand. Dann parkte er, und wir marschierten zurück zur Eisenwarenhandlung.
»Ich brauch‘ einen Gummischlauch, zweieinhalb Meter mit Schaumfütterung«, sagte Vater, und während der Mann den Schlauch holte, meinte er: »Wahrscheinlich ist Benzin deswegen so teuer. Sie tun Wasser rein. Du glaubst mir nicht? Wenn du darauf bestehst, daß es im Geschäftsleben so was wie Moral gibt« – ich hatte kein Wort gesagt –, »dann hast du vielleicht die Freundlichkeit, mir zu erklären, wieso zwei Drittel des von der Regierung untersuchten Fleisches krebserzeugende Nitrate in überreichlichem Ausmaß enthält und wieso Junk-Food – das ist eine erwiesene Tatsache – nicht den geringsten Nährwert hat ...«
Der Verkäufer kehrte mit einem zusammengerollten Schlauch zurück und reichte ihn Vater, der ihn untersuchte und zurückgab.
»Will ich nicht«, sagte er.
»Das haben Sie verlangt«, sagte der Mann.
Vater machte ein mitleidiges Gesicht. »Was ist mit Ihnen, arbeiten Sie für die Japaner?«
»Wenn Sie‘s nicht wollen, sagen Sie‘s doch.«
»Ich hab‘s gerade gesagt. Kommt aus Japan. Ich hab‘ keine Lust, daß sich meine schwerverdienten Dollars in Devisen für die Söhne Nippons verwandeln. Ich will keine weitere Generation von Kamikaze finanzieren. Ich will ein amerikanisches Stück Gummischlauch, mit Schaum – arbeiten Sie hier oder nicht?« Er fluchte, weil der Mann sich entfernt hatte und einen anderen Kunden bediente.
Vater bekam seinen Gummischlauch in einem kleineren Eisenwarenladen in einer Nebenstraße, aber als wir schließlich zu dem Pick-up zurückkamen, war er einem Schlaganfall nahe: Was hätte er doch alles in dem ersten Geschäft sagen sollen. »Ich hätte >Sayonara< sagen sollen, eine Riesenszene hätte ich machen sollen.«
Ein Polizist lehnte an unserer Parkuhr, die Hände darübergelegt, sein Kinn ruhte auf den Fingern, wie ein Arbeiter, der Pause machte und sich auf seine Schaufel stützte. Er schaute Vater an und lächelte eine Art Begrüßungslächeln; dann sah er mich und nagte an seiner Lippe.
»Müßte der Kleine nicht in der Schule sein?«
»Krank«, sagte Vater, ohne den Schritt zu verlangsamen.
Der Polizist folgte Vater zur Tür des Wagens, klemmte die Daumen in seinen Revolvergurt und sagte: »Moment mal. Warum ist er dann nicht im Bett?«
»Mit einer Fußpilzinfektion?«
Der Polizist bückte sich etwas und starrte mich über den Sitz hinweg an.
»Na los, Charlie, zeig‘s ihm. Er glaubt mir nicht. Zieh den Schuh aus. Laß ihn mal riechen.«
Ich löste die Schnursenkel meiner Segeltuchschuhe, als der Polizist sagte: »Schon gut.«
»Bloß keine Entschuldigung«, sagte Vater und lächelte dem Polizisten zu. »Höflichkeit ist ein Zeichen von Schwäche. Auf die Weise läßt sich das Verbrechen nicht bekämpfen.«
»Wollen Sie was?« Der Polizist preßte die Kiefer zusammen und rückte drohend näher. Er war jetzt wütend. Er wirkte schwergewichtig, auf der Hut vor allem möglichen.
Vater lächelte immer noch. »Ich hab‘ nur laut gedacht.«


... ein paar Tage später ...

Wir trabten zur Camping- und Freizeitabteilung. Ein Mann in Hemdsärmeln näherte sich uns. Er hatte ein glattes Gesicht und plattgedrückte Haare und sah gar nicht wie ein Camper aus, aber er sagte hallo zu uns alIen, blinzelte den Zwillingen zu und machte wie jeder eine Bemerkung über ihre Ähnlichkeit.
»Was kann ich heute für Sie tun?« fragte er und nickte, so daß ich seine Frisur besser sehen konnte. Die Haare waren von einem Ohr aus hochgekämmt und säuberlich in Strähnen über den Kopf geklebt – unwillkürlich schaute man nicht auf das Haar, sondern auf die kahlen Stellen dazwischen. Vater sagte, er wollte sich ein paar Feldflaschen ansehen. Mit den Lippen formte Jerry das Wort »Camping«, aber ich brachte ihn durcheinander, indem ich die Nase runzelte.
Der Mann reichte eine Flasche hinüber. Vater drückte mit den Daumen drauf und sagte, sie wäre so fadenscheinig, daß er sie mit Leichtigkeit zerquetschen könnte. Er sah näher hin und lachte laut auf.
»Made in Taiwan – verstehen ja ‘ne Menge von Feldflaschen. Haben nicht umsonst den Krieg verloren.«
»Sie kostet nur einen Dollar neunundvierzig«, sagte der Mann.
»Sie ist keinen Nickel wert« , sagte Vater. »Außerdem suche ich sowieso eine größere.«
»Wie wär‘s mit diesen Wasserbeuteln?« Der Mann ließ einen an seinem Stöpsel baumeln.
»Mit einem Stück Segeltuch und Nadel und Faden kann ich das selber machen. Wo stammt dieses miese Ding her? Korea! Verstehn Sie, das ist es – sie haben miese Fabriken und Sklavenarbeit in Korea und Taiwan. Kleine Kulis machen diese Sachen. Im Morgengrauen raus, den ganzen Tag schuften, nie ein bißchen frische Luft. Kinder machen das Zeug. Sie sind an die Maschinen gekettet – die Füße erreichen kaum die Pedale.«
Der Vortrag war für uns bestimmt, aber der Mann hörte zu und runzelte die Stirn.
»Sie sind dermaßen unterernährt, daß sie kaum geradeaus schaun können. Augenkrankheiten, Rachitis. Sie wissen nicht, was sie herstellen. Könnten genausogut Badematten sein. Deshalb haben wir in Südkorea Krieg geführt, um für arbeitsintensive Industrien zu kämpfen, was bedeutet, daß unterernährte Kinder für uns Wasserbeutel und Blechtassen machen, was das Zeug hält. Aber bloß kein Mitgefühl. Das ist Fortschritt. Das ist die Einstellung der Orientalen. Jeder sollte Kulis haben, richtig?«
Der Wasserbeutel in den Händen des Mannes sah jetzt wie etwas Böses aus. Der Mann legte ihn beiseite, glättete sein Haar, und wir standen schweigend daneben – Mutter, die Zwillinge, Jerry und ich –, während Vater nörgelte. Ich hatte den Hemdkragen hochgestellt, um meinen Hautausschlag zu verbergen.
»Was steht als nächstes auf der Liste?«
Mutter sagte: »Schlafsäcke.«
»Im Regal«, sagte der Mann.
Vater ging hinüber. »Nicht mal wasserdicht. Nützt einem ‘ne Menge im Monsunregen.«
»Sie sind für eine Zeltsituation gedacht«, sagte der Mann.
»Und wie steht‘s mit einer Regensituation? Und wo kommt das Ding her? Gobiwüste, Mongolei, die Gegend?«
»Hongkong«, sagte der Mann.
»Hab‘ ich ja nicht weit daneben getippt!« sagte Vater; vor lauter Befriedigung konnte er nicht mehr ruhig stehen. »Massenhaft Camping dort in Hongkong. Erkennt man auf einen Blick. Schau dir bloß mal die Nähte an – in zwei Tagen fallen sie auseinander. Mit einer einfachen alten Decke wär‘ man besser dran.«
»Decken gibt‘s in der Haushaltsabteilung.«
»Und wo sind die hergestellt – Afghanistan?«
»Kann ich Ihnen nicht sagen, Sir.«
Vater sagte: »Was stimmt mit diesem Land nicht?«
»Es ist besser als ein paar Länder, die ich Ihnen nennen könnte.«
»und verdammt viel schlimmer als ein paar andere«, sagte Vater. »Wir könnten dieses Zeug in Chicopee herstellen und hätten Vollbeschäftigung. Warum tun wir‘s nicht? Mir gefällt die Vorstellung kein bißchen, daß wir dürre orientalische Kinder zwingen, Plunderkram für uns zu machen.«
»Niemand wird gezwungen«, sagte der Mann.
»Jemals in Südkorea gewesen?«
»Nein«, sagte der Mann; sein Gesicht nahm den gehetzten Ausdruck an, den Leute bekamen, wenn Vater mit ihnen sprach. Polski hatte ihn vergangene Nacht gehabt.
»Dann wissen Sie gar nicht, wovon Sie reden, oder?« sagte Vater. »Zeigen Sie mir ein paar Rucksäcke. Sie können sie behalten, wenn sie aus Japan stammen.«
»Sie sind chinesisch – Volksrepublik. Wird Sie nicht interessieren.«
»Geben Sie her«, sagte Vater, und den kleinen grünen Rucksack wie einen Lumpen haltend, wandte er sich Clover zu. »Vor ein paar Jahren noch befanden wir uns praktisch im Kriegszustand mit der Volksrepublik. Rotchinesen, so bezeichneten wir sie. Rote, Schlitzaugen, Gelbe. Frag irgendwen. Jetzt verkaufen sie uns Rucksäcke – wahrscheinlich für den nächsten Krieg. Wo ist da der Haken? Es sind drittklassige Rucksäcke, würden nicht mal Sandwiches halten. Glaubst du, daß wir den Krieg gegen die Chinesen gewinnen werden?«
Clover war fünf Jahre alt. Sie hörte Vater zu und kratzte sich mit zwei Fingern den Bauch.
»Muffin, mir ist‘s egal, was du denkst – diesen Krieg werden wir nicht gewinnen.«
Der Verkäufer hatte angefangen zu grinsen. Vater sah es und sagte: »Dann werden Sie nicht mehr lächeln, mein Freund. Der nächste Krieg wird hier ausgefochten werden, das ist so sicher wie ...« (...)
Er stieß den Rucksack beiseite. »Verkaufen Sie so was Ähnliches wie Kompasse, oder bin ich da am falschen Platz?«
»Da hab‘ ich eine vollständige Auswahl«, sagte der Mann. Mit der flachen Hand strich er den Rucksack glatt, faltete ihn wie ein Wäschestück und legte ihn mit einem kleinen Aufstöhnen weg. Er stellte eine Schachtel auf den Verkaufstisch. »Der hier zählt zu meinen besseren«, sagte er und holte einen Kompaß heraus. »Er hat alle Eigenschaften der teureren Modelle, kostet aber nur zweieinviertel Dollar.«
»Muß ein chinesischer Kompaß sein«, sagte Vater. »Er zeigt ständig nach Osten.«
»Zu seinen Merkmalen gehört eine Stabilisierungskontrolle. Wenn Sie sie freigeben ... so« – er löste einen Haken an dem Gehäuse –, »dann schwingt die Nadel unbehindert. Sehen Sie, da ist Norden, drüben bei den Automatikfahrzeugen. Tatsächlich ist dieser Kompaß direkt hier in Massachusetts gefertigt worden.«
»Dann packen Sie ihn ein«, sagte Vater. »Sie haben soeben was verkauft.« Er legte den Arm um Mutter. »Wie schaut die Liste aus?«
»Baumwollkleidung, Nadeln und Zwirn, Moskitonetze ...«
»Stoffe«, sagte der Mann. »Nächster Gang. Schönen Tag noch.«


2. Charlie und Jerry – die Strafe

Zur Strafe wurden Jerry und ich die nächsten drei Tage im Kanu hinter dem Boot hergeschleppt. Wir aßen und schliefen darin. Es schlingerte und drehte sich wie ein Köder am Ende einer Angelschnur. Es war kaum Platz zum Hinlegen. Das Faß war zwischen uns, und die säuerlichen, widerlichen Benzindämpfe vermischten sich mit dem Gestank der Abgase des Außenbordmotors, die nach verbrannten Kleidern rochen. Ich bekam stechende Kopfschmerzen. Wir knieten im Wasser, das durch die Risse des ausgehöhlten Baumstamms sickerte, und schlugen die Zeit damit tot, daß wir einen Haken vom Heck aus hinter uns herzogen, in der Hoffnung, einen Fisch zu fangen.
Vater saß am Ende der zehn Meter langen Schleppleine am Heckgeländer des Hütten-Bootes, mit dem Rücken zu uns. Ich haßte seine Schultern, sein schmieriges Haar, die Krümmung seines Rückgrats. Ich stellte mir vor, wie es sein würde, ein Messer hineinzustechen, dicht unter seinem zerfetzten Kragen. Manchmal sah ich es mich selbst tun. In meiner Phantasie gab es kein Blut – keinen Schrei, keinen Kampf. Nur das Pfeifen entweichender Luft, wenn die Klinge hineinglitt und das Heft gegen das Fleisch stieß. Dann war er erledigt – wie ein Schlauch mit einem Riß. Ich sah es so deutlich vor mir, daß mein Arm schmerzte, als hätte ich es bereits getan, als hätte ich ihn durchbohrt.
Ich lauschte zu ihm hinüber. Er mußte wissen, dachte ich, was in meinem Kopf vorging, und ich fühlte mich schuldig. Aber ich hörte nichts weiter als Mutters Argumente, die ihn zu überreden versuchte, uns wieder an Bord zu lassen. Vater ließ sich nicht darauf ein. Er sagte, wir verdienten eine schlimmere Strafe. Wegen des Motorlärms konnte ich ihn schwer verstehen. Er war stolz auf die Tatsache, daß er uns nie verprügelt oder im Zorn Hand an uns gelegt hatte. Aber für uns wäre es besser gewesen, wenn er uns gestern geschlagen hätte. Der Einbaum und die Insekten und die Hitze – das alles war schlimmer als eine Tracht Prügel.
»Schneiden wir das Schleppseil durch«, sagte Jerry. »Wir werden‘s ihm zeigen!«
Jerry wollte, daß wir uns treiben ließen. Vielleicht testete Vater uns, um zu sehen, ob wir den Mut dazu aufbrachten. Aber ich ließ es nicht zu, daß Jerry die Leine berührte. Ich hatte Angst, sie könne von allein reißen oder Vater könnte sie durchschneiden. Während dieser Tage schlief ich oft ein und erwachte halb von Sinnen, glaubte, wir würden in dem gebrechlichen Kanu den Patuca hinunterwirbeln.
Ich sagte: »Wenn du das Seil anfaßt, springe ich über Bord und schwimme an Land. Du wirst ganz allein sein, Jerry. Du wirst sterben.«
Während der kurzen Zeitspanne von Vaters Verschwinden, als ich glaubte, er sei bei dem Versuch, den Schraubenpropeller hochzuholen, ertrunken, hatte ich keine Angst gehabt. Wir hatten das Boot und unsere Hängematten und Mutter. Aber als er wieder an Bord kletterte, kam mit ihm auch wieder die Furcht. Und in meinem Kopf geisterte wieder der Glaube herum, daß der Sturm über die ganze Welt getobt sei und daß an der Küste der Tod lauere.
»Ich glaube diesen Quatsch nicht«, sagte Jerry, als ich es ihm erzählte.
In dem Kanu war Jerry wilder, als ich ihn je erlebt hatte, sei es auf dem Boot oder anderswo. Hier, im Schlepptau, am Ende des Seils, sagte er verbotene Dinge. Er redete ununterbrochen davon, fortzulaufen und nach Hause zu fahren. Was er sagte, verursachte mir Alpträume, denn er faßte meine schlimmsten Phantasien in Worte. Wir verdienen es, in dem Einbaum hier bestraft zu werden, dachte ich. Wir gehören hierher.
»Ich hasse ihn« ,sagte Jerry. »Er ist verrückt.«
Ich erklärte Jerry, daß er ohne meine Hilfe niemals die Küste erreichen würde.
»Wir schaffen es nicht den Fluß hinauf«, sagte er. »Es ist unmöglich.«
»Woher weißt du das?«
Er trat gegen das Benzinfaß, zwei Schläge, die wie das Dröhnen einer Pauke hallten.
»Fast leer. Dad kann seinen Außenbordmotor nicht ohne Sprit laufen lassen.«
»Er wird rudern.«
»Er wird rückwärts fahren!«
Jerry lachte bei dem Gedanken daran. Er sagte, er sei froh, daß ich mich sorgte.
»Ich werde ihm sagen, daß der Sprit zu Ende geht. Paß auf, was er für einen Anfall kriegt.«
»Hör auf damit«, sagte ich.
»Du hast Angst vor ihm, Charlie. Du bist älter als ich und hast Angst. Ich habe keine Angst.«
Aber seine Stimme brach, als er das sagte, und er mußte zweimal schlucken, bis er wieder sprechen konnte. Er litt unter der Bestrafung. Er hatte in dem Kanu kaum geschlafen und sah elend aus. Wenn er sich nicht über Vater beschwerte, weinte er, schluchzte wie ein kleines Kind. Er wirkte sehr jung, wenn er weinte. Er schluchzte laut in seine Hände, mit gesenktem Kopf, damit Vater ihn nicht weinen sah. Als er eines Abends Vaters Gelächter aus der Eigner-Kajute hörte, sagte Jerry: »Ich könnte ihn umbringen.« Seine Stimme kam aus der Dunkelheit. Jetzt atmete er schwer, als sei es eine große Anstrengung gewesen, das zu sagen.
»Würde nicht schwer sein, ihn zu töten.« Jerry keuchte. »Wir könnten uns an ihn ranschleichen. Ihm einen Hammer überziehen. Aufs Gehirn ...«
»Sag so was nicht, Jerry.«
»Du hast Angst.«
Ja, weil du die schrecklichen Sachen sagst, die mir im Kopf herumgehen, dachte ich. Ich fühlte förmlich den glatten Griff des Hammers. Ich hörte ihn auf Vaters Schädel krachen, der wie eine Kokosnuß auseinanderbrach – das Heraussickern farblosen Wassers. Ich sagte: »Nein.«
»Ich wünschte, er wäre tot«, sagte Jerry. Er fing wieder an zu weinen. Seine Tränen trösteten mich. Er weinte für mich.



Der Film:

Wie einige von euch wissen, wurde der Roman verfilmt. Kein geringerer als Peter Weir hat 1986 den Film (The Mosquito Coast) in die Kinos gebracht. Mit dem brillanten Harrison Ford (als Vater) – wie ich finde einer seiner besten Filme –, den unsterblichen River Phönix (als Charlie) und Jadrien Steele (als Jerry). In einer weiteren Rolle übrigens auch Rivers zeitweilige Freundin Martha Plimpton.

Den Film finde ich – entgegen der beliebten Regel – besser als das Buch. Die Entwicklung der Ereignisse wirkt im Film schlüssiger, die Schauspieler – allen voran Harrison und River – zeigen ganz außergewöhnliches Kino. Zu River muss man sagen, dass er hier ein wenig auch seine Geschichte spielte. Seine Eltern lebten Anfang der 70er Jahre in einer Hippi-Kommune in Oregon. Nach Rivers Geburt zog es sie nach Colorado zu einer Sekte (»Kinder Gottes«), dann weiter nach Mittelamerika – eben zum Brennpunkt des Romans. Ende der 70er Jahre kehrten sie in die Staaten zurück (und gaben sich dann erst den Namen »Phönix«).
Von Jadrien Steele habe ich leider nichts mehr gehört oder gesehen.

So, das wars.
Ich würde mich wie immer auf Reaktionen freuen.
Liebe Grüße
Renko

Edit 11/3: Bilder wieder off ;(
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Micelangelo

Lebende Foren Legende

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2

Freitag, 13. Februar 2004, 12:28

Also den Film kenn ich (wenn du mich mit dem Fotoquiz auch voll gelinkt hast :rofl: ) Aber wenn der Film besser wie das Buch ist *grübel*. Und Jadrien Steele kenne ich noch aus der TV Verfilmung von Der geheime Garten.Da spielt er den vernachlässigten Sohn. Barret Oliver spielt da auch mit.
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Svefinn

Torwächter

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3

Freitag, 13. Februar 2004, 19:32

Und ich kenne den Film auch,kann man sich mal antun.
Ist gar nicht so übel. :) Aber ich habe noch einiges zu lesen jetzt da ich Birthday hatte.Und ich lese auch nicht soo gerne Bücher wo ich den Film bereits ein paar mal gesehen habe.
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Dylan

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4

Samstag, 14. Februar 2004, 11:10

@ Renko hast Dir aber wieder mal viel Mühe gamacht.

Die beiden Leseproben sind finde ich wirklich gut :) . Macht Spaß, zu lesen, wie der Vater sich doch irgendwie über alles und Jeden aufzuregen scheint und das wirklich auf eine sehr lustig Art und Weise. Besonders im Bezug zu den Gesellschaftskritischen Aspekten finde ich das so weit ich das jetzt urteilen kann, sehr gelungen, weil sie viel Wahrheit enthalten.

Und die Szene mit den Beiden im Boot finde ich auch schön, weil es doch viel die Gefühle und die Gedanken der Beiden beschreibt und trotzdem Raum für die eigene Phantasie bleibt, was das Vorstellen der ganzen Situation anbelangt meine ich.

Den Film kenne ich nicht glaube ich, wobei mir die Geschichte und irgendwie auch die Bilder doch auf eine Art bekannt vorkommen...
Sprich nie ein hartes Wort, womit du jemand kränkst,
du triffst vielleicht sein Herz viel tiefer als du denkst.


WER LESEN KANN IST KLAR IM VORTEIL :D
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5

Samstag, 14. Februar 2004, 23:06

Danke für den Tip.

Auch wenn man den Film schon gesehen hat, es läßt sich im Buch doch immer was neuen entdecken :)
Wir verlangen, das Leben müsse einen Sinn haben,
aber es hat nur genau so viel Sinn wie wir ihm geben.
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Renko

König

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Beiträge: 128 Aktivitäts Punkte: 755

6

Montag, 16. Februar 2004, 10:36

@Dylon: Freut mich, wenn jemand die Leseproben liest. :) Leseproben sind wie Filmausschnitte – man ist für kurze Zeit mittendrin, bekommt eine Ahnung vom Buch bzw. Film. Auch wenn man Leseproben nicht überbewerten darf, finde ich sie hilfreich.
Bei diesem Buch ist mir die Auswahl (der Leseproben) auch nicht schwer gefallen. Der Vater bringt ständig sone Schoten (»Und wie steht‘s mit einer Regensituation?«). Auch teile ich deinen Eindruck, dass der Autor nicht alles beschreibt und erklärt, so dass genug Raum bleibt.
Diesen Roman könnt ihr (mit einem Seitenblick Richtung Svefinn) euch ruhig antun – auch wenn ihr den Film schon kennt (Lord. Greystoke Recht gebend) ;)
Liebe Grüße
Renko
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Micelangelo

Lebende Foren Legende

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Beiträge: 1 271 Aktivitäts Punkte: 6 470

7

Montag, 16. Februar 2004, 16:07

Ja so eine Leseprobe hat schon was wobei man aber auch ganz schön daneben liegen kann ;)
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