Sie sind frei, Doktor Korczak
Titel: Sie sind frei, Doktor Korczak
Produktionsland: Deutschland (West) 1974
Regie: Aleksander Ford
Darsteller: Benjamin Völz u.a.
[attach]47164[/attach] DVD mit Wendecover
DVD ab 29.8.2014 im Handel
Film in deutscher Sprache, 4:3 Vollbild, Laufzeit ohne Abspann 89 Min.
Das Bildmaterial auf der DVD ist bescheiden, die Farben sind verblichen. Damit muß man bei einem vernachlässigten Museumsstück wohl leben.
Von den Jungdarstellern ist nur Benjamin Völz in der Rolle des Michael in den Credits aufgeführt. Er hat danach noch einige Produktionen in der dritten Reihe mitgemacht. Die Besetzung der anderen Kinderrollen ist unbekannt, im Abspann und in der imdb sind sie nicht erwähnt. Wer dazu etwas weiß - wer z. B. Michaels Freund David gespielt hat - darf das Wissen gern hier ergänzen.
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FILMBESPRECHUNG
Im Warschauer Ghetto betreut der jüdische Arzt Janusz Korczak mit unermüdlicher Hingabe die Kinder im Waisenhaus. Durch nichts läßt sich der eifrige Doktor davon abhalten, auch noch zur Sperrstunde durch die Straßen zu laufen, um alle nötigen Dinge für die mittellosen Kinder zu besorgen. Nahrung, Kleidung, Schuhe, Medikamente - die Beschaffung ist mühsam in dem eingemauerten Stadtteil, wo 1942 fast eine halbe Million Menschen jüdischer Identität ohne zureichende Versorgung von den Nazis zusammengepfercht sind.
Unterstützt von Schwester Stefa versucht der Doktor den Waisenkindern ein beschütztes Zuhause zu geben. Sie sollen sich nicht fürchten müssen, sie sollen lernen und ihre Kultur bewahren. Sie bekommen Unterricht, sie musizieren, sie beten, und sie haben sogar ein eigenes Gericht, wo die Kinder untereinander Streitigkeiten regeln. Abends bettet der liebevolle Doktor viele von ihnen persönlich zur Nacht und leiht ihren Sorgen sein beruhigendes Ohr. Kinderträume sind Korczaks Lebenselixier. Er sammelt sie jeden Tag und füllt damit das gläserne Gefäß seiner Seele.
Die geheime Nachricht, daß die SS die Deportation aller Juden aus dem Ghetto in Arbeitslager vorbereitet, läßt Doktor Korczak nicht von der Stelle weichen. Der gütige Mann schlägt die Möglichkeit aus, sich rechtzeitig in Sicherheit zu bringen. Er kann doch die armen Kinder nicht sich selbst überlassen. Am liebsten möchte er alle Kinder dieser Welt vor der schreienden Ungerechtigkeit erretten.
Einer der größeren Jungen ist Michael. Zusammen mit seinem kleinen Freund David betätigt er sich unter großen Gefahren als Schmuggler und Bettler um Almosen. Denn jeder Tag bricht mit der puren Not des leeren Magens an. Michael verliert seinen besten Freund an die Gewehrkugel eines SS-Wachmanns. Bei der Flucht durch die Kanalisation stößt Michael auf einen Ausgang, der ihm noch nützlich sein wird.
Ein Mann, der aus dem Lager Treblinka entfliehen konnte, bringt schreckliche Kunde: Dort werden Juden massenhaft in Gaskammern ermordet. Für die Juden im Ghetto ist es unvorstellbar, daß die Deutschen wirklich eine halbe Million Menschen umbringen wollen, nur weil diese einer von den Nazis verachteten Kultur zugehörig sind.
Der Tag rückt näher, an dem auch für die Kinder des Waisenhauses der Befehl zum Abtransport kommt. In seiner fantasievollen Art erklärt Doktor Korczak den Kindern, sie würden einen Ausflug aufs Land machen. Ohne Angst sollen die Kleinen die Reise nach Treblinka antreten. Nur Michael hat eigene Pläne. Er kennt einen anderen Weg. Am Bahnhof teilt man Doktor Korczak mit, er sei von dem Transportbefehl ausgenommen. Ohne eine Reaktion zu zeigen marschiert der Mann an der Spitze des Zugs seiner Schützlinge weiter auf die Verladerampe...
Doktor Korczak und die Waisenkinder wurden im August 1942 im Vernichtungslager Treblinka ermordet. Dem polnischen Arzt und Pädagogen, der sein ganzes Leben und Wirken dem Wohl der Kinder verschrieben hatte, setzt der Spielfilm ein Gedenken. Im entscheidenden Moment sah er in seinem eigenen Überleben keinen Sinn, wenn er nicht bei den Kindern wäre.
Wieder sind es die Jüngsten, die Schwächsten, die in der bestialischen Unvernunft einer entfesselten Welt zermalmt werden. Thematisch einzusortieren zu neueren Kinoproduktionen wie "Der Junge im gestreiften Pyjama" und "Die Kinder von Paris", ist dies ein schmerzhafter Film, der auch heute noch kaum weniger Beklemmung erzeugt als zu seiner Entstehung in den frühen 1970er Jahren, als mit der Aufarbeitung des Holocaust gerade erst begonnen wurde.
In der Einleitungsszene wird deutlich, in welchem industriellen Ausmaß die Nazis die systematische Vernichtung der jüdischen Bevölkerung planten und durchführten. Am Schluß verlassen die Kinder das ausgeplünderte Ghetto unter dem Gefechtsfeuer des Häuserkampfs zwischen SS-Einheiten und dem militanten jüdischen Widerstand.
Für selbstbezichtigende antideutsche Polemik und für jüdische Generalbeschuldigung und kollektive moralische Inhaftnahme der deutschen Nachkriegsgenerationen bietet der Film keine Plattform. Dazu war das Thema vermutlich damals zu frisch. Damit beweist sich: Man kann, beziehungsweise man konnte, über den Holocaust aufklären, ohne ihn für die zionistische Propaganda zu mißbrauchen. Unter dem Gesichtspunkt kann der Wert dieses Films mit seiner nüchternen, besonnenen Darstellung historischer Ereignisse nicht hoch genug eingeschätzt werden.
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© Minifant