[attach]50178[/attach] DVD Wendecover
Ton: Deutsch, einblendbare Untertitel: Englisch
Einige Passagen sind in Russisch und Litauisch, dazu gibt es unsinnigerweise keine Untertitel. Insgesamt hat der Film so wenig Dialog, daß das eine wie das andere nicht ins Gewicht fällt.
Es gibt dann also doch noch deutsche Filme, in denen Bildregie, Kamera und Schnitt eine kunstvolle Atmosphäre schaffen.
FILMBESPRECHUNG
Regungslos sitzt ein Junge mit schmutzigem Gesicht zwischen den hohen Halmen einer blühenden Sommerwiese. Nur kleinste Bewegungen der Augen, der Nase, der Lippen verraten, daß alle seine Sinne mit höchster Konzentration die Umgebung beobachten. Wie ein Raubtier still auf seine Beute lauert oder gar sie mit geschickter Täuschung anlockt, ist das Menschenkind in der Natur auf der Jagd nach Eßbarem.
Ein anderer Junge klettert behutsam im Geäst eines Baumes, bis er das Vogelnest erreicht. Die kleinen Eier teilen sich die zwei Jungen, wie alles, was sie mit ihrer schlauen Taktik gemeinsam ergattern. Sammeln, fangen, töten, stehlen - jedes Mittel ist recht, wenn es um das tägliche Überleben geht.
Der 14jährige Hans und sein jüngerer Bruder Fritz besorgen Nahrung für sich und ihre im Sterben liegende Mutter, die sie in einem leerstehenden Haus versteckt halten und pflegen. Bevor sie stirbt trägt die Mutter ihren Söhnen auf, über die Memel ostwärts nach Litauen zu wandern. Dort gibt es Bauern, bei denen deutsche Kinder unterkommen können.
Ostpreußen und Litauen sind im Sommer 1946 von der Sowjetunion besetzt. Weite Landstriche in Ostpreußen sind ein Jahr nach Kriegsende entvölkert. Die Idylle der fast parkähnlichen Landschaft aus weiten, mit Buschreihen durchzogenen Grasflächen ist trügerisch. Plötzlich aus dem Unterholz hervorbrechende sowjetische Soldaten schießen auf Kinder. Diese rennen um ihr Leben. Es mutet an wie ein Geschehen aus der Urzeit. Bei der wilden Flucht durch den Fluß verliert Hans seinen Bruder aus den Augen. Als der Spuk vorbei ist, befindet sich Hans in Begleitung anderer Kinder. Auch sie haben ihre Familien verloren.
Tausende solcher alleingelassener, später von der Geschichtsschreibung als "Wolfskinder" titulierter Waisen gab es in den Nachkriegsjahren, besonders in den Ostgebieten, aus denen die deutsche Bevölkerung vertrieben worden war. Sie schlagen sich durch Wälder und Sümpfe, trotzen Hunger, Verletzungen, Einsamkeit und immer wieder feindseligen Erwachsenen. Die Not zieht sie hin und wieder zu einem Bauernhaus, wo man den ausgemergelten, geschundenen Kindern gerne hilft, selbst aber dadurch keine Scherereien bekommen will.
Stumm geworden ziehen die "Wolfskinder" durch Wildnis und Felder, meiden die Wege. Zu sagen haben sie sich nicht viel, Blicke und Gesten genügen. Gleichwohl jeder um sein eigenes Überleben kämpft, identifizieren sie sich gegenseitig als eine Schicksalsgemeinschaft. Wo fremde Kinder aufeinander treffen, stehen sie sich bei. Ihre verhärteten Gesichter sehnen sich nach friedlichen Augenblicken, in denen sie ein Lächeln wagen dürfen. Hans erfreut sich an faszinierenden Insekten, ein winziges Stück geflügelter Unbekümmertheit.
Was Hans auf dem Marsch erlebt, ist ein Gang durch die Hölle. Der Krieg ist hier noch nicht vorbei. Soldaten und Milizen marodieren, rauben, töten, vergewaltigen Zivilisten und scheuen auch vor Kindern nicht zurück. Die ohnmächtige Wut darüber, daß er seinen kleinen Bruder verloren hat, treibt Hans an, nun andere jüngere Kinder zu beschützen, die seinen Weg kreuzen. Die Suche nach Fritzchen gibt er nicht auf. Wo er auf freundliche Menschen trifft, lehnt er es ab zu bleiben und zieht alleine weiter. In einem fremden Land, wo es nötig ist eine andere Identität anzunehmen, wenn man am Leben bleiben möchte, behauptet Hans seinen Stolz. Nie zu vergessen, wer er ist, das hatte ihm die Mutter eingeschärft. Nie seine Familie verlassen, das ist der Gedanke, der dem 14jährigen Jungen die Kraft gibt, sich gegen das Zerbrechen seiner Seele zu stemmen.
Hauptdarsteller Levin Liam ist eine der Neuentdeckungen des Jahres 2013. In "Die Bücherdiebin" spielte er den bösartigen Nazi-Schulschläger Franz. Als "Wolfskind" Hans verkörpert Levin Liam mit enormem physischem Einsatz das Antlitz eines verbissenen jungen Kämpfers, der sich durch schwieriges Gelände quält und permanent seine Haut retten muß. Hans hat an jedem Tag Entscheidungen zu treffen, und bei manchen geht es um Leben oder Tod. Sein Weg fordert bittere Opfer.
Die breite, flache Landschaft mit ihrer urigen Vegetation dankt das Cinemascope Format durch Bilder von exotischer Schönheit. Die letzte grüne Wildnis Europas, in die sich harmonisch kleine Inseln mit hölzernen Bauernhäuschen und umliegenden Feldern einfügen, fand das Drehteam in Litauen. Ein ausgewogenes Verhältnis von bewegter Handkamera und statischen Panoramaaufnahmen verleiht dem Film eine spezifisch auf den Inhalt abgestimmte Atmosphäre. Verloren in einem verwunschenen Wald, nur von Naturgeräuschen umhüllt, doch stets wachsam auf der Hut vor dem Feind, wandeln die Kinder wie Geister durch Tag und Nacht. Ihre angstvoll starren Gesichter sind oft aus einem leichten Winkel von unten gegen den Hintergrund gefilmt. "Wolfskinder" ist mit stellenweise schmerzhafter Direktheit an den Figuren, läßt den Zuschauer die gespenstische Zeit des Überlebenskampfs mitfühlen und wahrt dennoch eine Distanz zu all dem Elend durch die entrückte Implementierung der zerlumpten Kinder in die zauberhafte Naturkulisse.
Der Zweite Weltkrieg bleibt im Fortgang der Geschichte kein singuläres Ereignis. Auch 70 Jahre danach bringen Kriege nicht weit weg vom Zentrum Europas wieder neue Wolfskinder hervor.
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