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FILMBESPRECHUNG
(kann Spoiler enthalten!)
Auf der Insel Bastøy im Fjord vor Oslo liegt im Jahr 1915 das berüchtigte Zuchthaus für jugendliche Straftäter. Es sind zumeist Kinder aus schwierigen Familienverhältnissen, die im Leben nicht Fuß fassen konnten. In der nach christlichen Idealen geführten Erziehungsanstalt erwartet sie ein Seelenbruch aus drakonischen Strafen, Züchtigung mit Körperverletzung und sexuellem Mißbrauch durch das Anstaltspersonal. Zu unterwürfigen Arbeitsmenschen sollen sie abgerichtet werden. Freigeister haben in der obrigkeitshörigen Gesellschaftsordnung jener Zeit keinen Platz.
Neuankömmlinge fügen sich schnell in das unbarmherzige System von Gewalt und Demütigung. Nicht so der junge Matrose Erling, der zusammen mit dem sensiblen Teenager Ivar in das Jugendgefängnis Bastøy eingeliefert wird. Der autoritäre Direktor, der sadistische Hausvater Bräthen und die gefügigen Jungen sind entschlossen, dem Trotzkopf Erling seine Widerspenstigkeit auszutreiben. Häftling C19, wie er jetzt nur bezeichnet wird, soll wie alle anderen mit strengen Regeln und hartem Arbeitsdienst geschliffen werden.
Ein erster Ausbruchsversuch scheitert, weil C19 in seiner Überheblichkeit einen Fehler begeht. Er vergißt nämlich, daß er nicht der einzige Gefangene auf der Insel ist. Dennoch erhebt ihn sein Mut bei seinen Leidensgenossen zum Helden. Nun beginnt er zu begreifen, daß Solidarität hier das Gebot ist. Das fordert er auch sogleich vom Ranghöchsten C1 ein, welcher als Vorsteher für eine Einhaltung von Ordnung und Disziplin in seiner Gruppe die Verantwortung hat. Olav, C1, war als Elfjähriger in das Gefängnis gekommen und hatte sich 6 Jahre lang gehalten und hochgedient. Jetzt steht er unmittelbar vor seiner Entlassung in die Freiheit. Ausgerechnet jetzt freundet er sich mit C19 an und wird durch dessen aufrührerische Gedanken in einen schweren Gewissenskonflikt gestürzt. Wird Olav die Gefängnisinsel als freier Mann verlassen können, während das Schreckensregime die Jungen weiter mißhandelt?
Olav nimmt sich ein Herz, er riskiert viel, um gegen das schreiende Unrecht aufzubegehren, aber er kommt damit zu spät, um den tragischen Tod eines gequälten Jungen noch zu verhindern. Doch nun brennt die Lunte. Der angestaute Haß bahnt sich seinen Weg. Schließlich bricht der Damm. Es kommt zur offenen Rebellion. Explosionsartig entlädt sich die Wut der so lange gedemütigten Jungen in einem bestialischen Gewaltrausch gegen die Aufseher. Nur noch die Armee kann die Revolte der Jugendlichen niederschlagen. Die Behörden auf dem Festland schicken ein Kriegsschiff, um die außer Kontrolle geratene Gefängnisinsel zurückzuerobern...
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Norwegen beginnt im Filmjahr 2010 damit, die dunklen Kapitel seiner jüngeren Geschichte aufzuarbeiten. Während in dem Film "Yohan - Barnevandrer" in historischer Parallele zu den süddeutsch-österreichischen "Schwabenkindern" das leidvolle Schicksal der verarmten Kinder thematisiert wird, die im späten 19. Jahrhundert in Norwegen aus Hungergebieten im Westen als Landarbeiter zu Bauern im Osten wanderten, bringt "Kongen av Bastøy" die häßliche Seite des geschlossenen Erziehungsstrafvollzugs an minderjährigen Knaben in das öffentliche Bewußtsein.
Der Film basiert auf wahren Begebenheiten. Im extra Feature auf der DVD berichten Zeitzeugen, die in den letzten Jahren der erst 1953 geschlossenen Gefängnisanstalt Bastøy als Kinder eingesperrt waren, von den menschenverachtenden Verhältnissen, die dort herrschten. Sie bestätigen das, was der Zuschauer nur erahnt: Über viele Jahre ihrer prägenden Entwicklungsphase hinweg wuchsen sie in einer Umgebung von vollkommener Lieblosigkeit auf, ohne jede soziale und emotionale Bindung, nur dem eigenen Selbsterhaltungstrieb folgend.
Im Kinofilm wurden die Jungen in den Hauptrollen einige Jahre älter gemacht, wohl weil das Drehen mit älteren Darstellern einfacher ist, und weil man Kindern die Brutalität nicht zumuten wollte.
Für die Kinder auf Bastøy existiert keine Vergangenheit, es zählt nur das Hier und Jetzt; das ist die Devise des Direktors. Danach richtet auch Regisseur Marius Holst die Figuren aus. Es wird nicht erwähnt, weshalb die Jungen im Gefängnis sind. Nur bei einer Gelegenheit kommt ein kleiner Diebstahl als Ursache zur Sprache.
Erling stößt die Revolte an. Der interessantere Charakter ist der von Olav. Über Jahre hinweg wurde der Junge dazu erzogen, als Vorsteher der Baracke C seine Mitgefangenen gnadenlos zu Disziplin anzutreiben und jedes Vergehen zu bestrafen. Er sieht in diesem gefälligen Verhalten seine einzige Chance, so bald wie möglich die Freiheit zu erlangen. Jeder andere würde dasselbe tun, so glaubt er. Trotzdem hat Olav über die Zeit seine Menschlichkeit bewahrt. Vielleicht war es sogar gerade die extreme Situation, die den Jungen dazu zwang, sich zu seinem eigenen Schutz in sich zurückzuziehen und sich einen inneren Freiraum zu schaffen, in welchem er im Geheimen seine Gedanken entwickeln konnte. Der rebellische Erling erweckt in Olav das im Stillen herangereifte Gewissen.
Zwischen den zwei Jungen bildet sich eine Freundschaft. Was sie verbindet, ist die Sehnsucht nach Freiheit und Abenteuer in einer besseren Welt. Zeilen aus dem Roman "Moby Dick" begleiten die Freunde während der wenigen Momente, wo sie zusammen träumen dürfen, und auch bei der dramatischen Flucht über das brüchige Eis des zugefrorenen Fjords. Wie ein aufgetauchter riesiger Wal liegt der langgestreckte Buckel der Insel Bastøy im Meer. Das fahle Licht des Winters tilgt jede Farbe aus den Bildern. Nur das Blau der Häftlingsuniformen bleibt stehen. Das Filmmaterial wurde mit einem blau-grauen Filter bearbeitet, um die Kälte und Trostlosigkeit spürbar werden zu lassen. Hinter der Blässe der Gesichter brodelt das Blut, bis es durch die Eskalation der Ereignisse zum kollektiven Aufstand der Jugendlichen kommt. Laiendarsteller Trond Nilssen wuchs selbst im Heim auf, er kann in die Rolle des Olav viel eigene Erfahrung einbringen.
Während der einsame Direktor, klug gespielt von Stellan Skarsgård, zwar korrupt ist, jedoch, von den Erfolgsaussichten der Erziehung zutiefst überzeugt, auf subtile Weise eine schützende Hand auf die Jungen hält, verkörpert Hausvater Bräthen das durch und durch Schlechte im Charakter eines Menschen. Bräthen hat sich in der Abgeschiedenheit des Orts eine ideale Nische eingerichtet, wo er seine Machtposition ausnutzen kann, um sich unbehelligt an den Jungen zu vergehen.
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